Die Wohnungsgesellschaft Hoyerswerda will zwei Wohnblöcke im architektur-historisch bedeutsamen Stadtquartier „Wohnkomplex 1“ (WK1) abreißen. In der „Blase“, in der ich mich bewege, regt sich erbitterter Widerspruch. Ich erbarme mich, schreibe das mal auf, mache einen Entwurf und die Endredaktion.
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Mit großer Beunruhigung hat die Bürgerschaft von Hoyerswerda die Pläne zum Abriss zweier weiterer Blöcke im Wohnkomplex (WK) 1 zur Kenntnis genommen.
Hoyerswerda Neustadt gilt bauhistorisch als die 2. Sozialistische Stadt, die im Rahmen der Errichtung des Industriegebiets Schwarze Pumpe als reine Wohnstadt geplant und errichtet wurde. Sie markiert als internationaler Pilot der Moderne die Abkehr vom stalinistisch-handwerklich-traditionell geprägten Baustil hin zur funktionellen, modernen sozialistischen Stadt internationalen Stils unter breitester Anwendung industrieller Baumethoden.
Die Grundlagen dafür bildeten die Charta von Athen (1933) sowie die 16 Grundsätze des Städtebaus der DDR (1950), dessen programmatisches Ziel die harmonische Befriedigung des Anspruches auf Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung war. Städtebauliche Grundlage bildete der Siegerentwurf vom Entwurfsbüro für Stadt- und Dorfplanung Halle (1956).
Der WK 1 ist der erste gebaute Wohnkomplex und damit in seiner Struktur ein bauhistorischer Prototyp. Jeder Wohnkomplex der Neustadt wurde als kleine eigenständige Einheit entworfen. In seinen Grenzen sollten die Bewohner alles finden, was für den täglichen Ablauf des Lebens notwendig ist: Kaufhalle, Läden, Gaststätte, Schule, Kinderkrippe, Dienstleistungseinrichtungen, Kindergarten, Grünanlagen etc.
Demzufolge finden sich im WK 1 die ersten Experimental- und Versuchsbauten der industriellen Plattenbauweise. Der WK 1 bildet mit der gesamten Neustadt und ihren (noch) fragmentarisch erhaltenen Elementen somit eine einzigartige Dokumentation der Entwicklung des industriellen Wohntypenbaus der ehemaligen DDR. Dies macht insbesondere den WK 1 als Flächendenkmal unseres Erachtens höchst schutzwürdig.
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Der WK 1 ist zudem ein einzigartiges Dokument der Personengeschichte.
Die Neustadt und insbesondere der WK1 repräsentiert zum ersten das Wirken des Architekten Richard Paulick (1903-1979), der als Leiter des Aufbaustabes von 1959-1963 die Errichtung der Neustadt maßgeblich prägte. Paulick war ein bedeutsamer Architekt, der als Mitarbeiter von Walter Gropius, dann mit Hans Scharoun an der Wiederaufbauplanung des historischen Zentrums von Berlin und später als Chefarchitekt von Schwedt und Halle Neustadt tätig war.
Zum zweiten hebt das Wirken und Schaffen der Schriftstellerin Brigitte Reimann (1933-1973), die von 1961-1968 im WK1 lebte – vor allem in Bezug auf ihre Tagebücher und ihren großen, bedeutsamen Gesellschaftsroman „Franziska Linkerhand“ – die Neustadt und damit der WK1 als einen wichtigen Erfahrungsort der DDR-Alltagsgeschichte hervor, der den WK1 mittlerweile sogar international kulturtouristisch aufgewertet hat.
Zum dritten bezeugt die Neustadt und mit ihr der WK1 das Wirken zahlreicher Künstler und ihrer Werke (Plastiken, Reliefs, Brunnenanlagen etc.), unter denen hier Jürgen von Woyski (1929-2000) stellvertretend genannt sei: Zahlreiche seiner Plastiken sowie die von ihm ausgerichteten Bildhauersymposien prägen die Neustadt und den WK1 als einzigartigen Stadt-Kunstraum.
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Wir wollen keineswegs abstreiten, dass die städtische Wohnungsgesellschaft (WH) als Eigentümerin die fortgesetzten Abrisspläne im WK1 sorgfältig abwog. Wir wissen auch, dass die WH einem starken wirtschaftlichen Druck auf dem Wohnungsmarkt ausgesetzt ist.
Aufwühlend am Abriss-Vorhaben jedoch ist, dass das Städtebauliche Entwicklungskonzept (SEKo) aus dem Jahre 2016/17 per Stadtratsbeschluss vom 27.02.18 ein Abriss-Tabu für den WK 1 ab 2020 beschloss. Die Handlungen der WH sprechen eine andere Sprache: 2021 wurde im WK1 ein Wohnblock abgerissen. 2024 sollen zwei weitere Blöcke dazukommen. Ein Tabu-Bruch ohne öffentliche Rücksprache mit der Bürgerschaft.
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In Bezug auf die Bürgerbeteiligung wird seitens der WH darauf verwiesen, dass diese im Aufsichtsrat durch gewählte Stadträte garantiert ist. Das Argument mag formal korrekt sein, hat aber mit frühzeitig-breiter Bürgerbeteiligung am Prozess des Rückbaus in der Neustadt – so wie es im SEKo 2016/17 beschlossen und verabredet wurde – nichts zu tun. Dies entspricht nicht den realen Potentialen moderner, lösungsorientierter Bürgerbeteiligung.
Ein stark emotionalisierender Faktor ist, dass im Mai dieses Jahres die Überarbeitung des veralteten Integrierten Stadtentwicklungskonzepts (INSEK) eingeläutet wurde – durch einen neuen, ausdrücklich transparenten und bürgerbeteiligten Prozess am Gesamtstädtischen und regionalen Entwicklungs- und Handlungskonzepts (GeREHK). Auf die Bitte seitens der Bürgerschaft nach wenigstens einem Moratorium (Aufschub) des Abriss-Vorhabens, solange der GeREHK-Prozess nicht abgeschlossen ist, wurde jedoch nicht positiv reagiert. Wir befürchten stattdessen eine konsequente Weiterführung des geplanten Abriss-Vorhabens.
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Angesichts dieser Situation sehen organisierte Vertreter der Zivilgesellschaft von Hoyerswerda keine andere Möglichkeit als nach „Hilfe von außen“ zu rufen. Irritierend wirkt zudem der Umstand, dass der WK1 bereits 1985 als Flächendenkmal eingestuft wurde, dessen Schutzwürdigkeit offensichtlich die Wirren der Nachwende-Zeit nicht überlebte. Da bisher kein städtischer Verantwortungsträger erwog prüfen zu lassen, ob das bauhistorische Ensemble „Wohnkomplex 1“ als Flächendenkmal schutzwürdig ist – bitten wir mit diesem Gesuch ausdrücklich um eine Überprüfung.
Gezeichnet:
1. Mitglieder des Kulturbunds Hoyerswerda:
Peter Biernath, Hella Biernath, Ute Walter, Paula Stobel, Elvira Lätsch, Renate Großmann, Monika Weist, Rita Köbberich, Erika Jakubik, Elke Graf, Margit Rauh, Monika Koschnick, Annelies Heinrich, Beate Gebauer
2. Mitglieder der Gesellschaft für Heimatkunde Hoyerswerda – Museumsverein e. V.:
Rita Hertel, Elke Roschmann, Helga Wenzel, Ursula Philipp, Detlef Stierl, Jürgen Thamm, Friedhart Vogel
3. Mitglieder des Freundeskreises ehemaliger Kunstverein:
Christine Neudeck, Angela Potowski
4. Mitglieder des Vereins zur Pflege der Regionalkultur der Mittleren Lausitz e.V:
Kirsten Böhme, Werner Srocka, Werner Böhme
5. Mitglieder des Kulturfabrik e.V. Hoyerswerda:
Jens-Uwe Röhl, Uwe Proksch, Heike Kalkbrenner, Torsten Lützner, Christian Völker-Kieschnick, Angela Donath, Cornelia Déus, Torsten Hauser, Dirk Lienig, Angela Schuster, Grit Lemke
6. Mitglieder des ORGA-Teams der Initiative Mitmachstadt Hoyerswerda:
Marita Gatzlaff, Dagmar Steuer, Olaf Winkler, Toni Züchner
7. Einzelpersonen:
Konstanze Niemz, Sabine Daul, Antje Nauman, Detlef Henke, Caro Seifert, Frank Seifert
Hoyerswerda, 20. Juli 2023