Das Stadtleitbild 2030 gibt Orientierung – nicht nur Neuankömmlingen.
Wieder und wieder stolpere ich über diesen blank geknabberten Knochen. Immer wieder schnappe ich nach ihm und immer wieder beiße mich an ihm fest – am „Leitbild Hoyerswerda 2030“. In meiner Umgebung schmunzelt man oder verdreht die Augen, wenn man mich mit diesem Knochen zwischen den Zähnen entdeckt. Am Mittwoch gab’s dazu eine Bürgerwerkstatt und ich wackelte hin. Warum bin ich nur so versessen auf dieses Thema? Klären wir das mal. Prinzipiell!
So ein Ankömmling wie ich muss sich erst halbwegs zurechtfinden in dieser Stadt und kommt dann über die typischen Alltagsfragen hinaus: Wo gibt es hier schmackhaftes Brot, Wurst und Käse? Wo bekomme ich meine Hygieneartikel und Verbrauchswäsche (Socken usw.)? Wo ist die Post, welche Öffnungszeiten hat sie? Damit ich meine Fehlgriffe beim Internetshopping rückgängig machen kann! Wo finde ich Orte, Vereine und Leute, von denen ich annehme, dass dort getan wird, was ich selbst auch liebe zu tun. Wenn das also beantwortet ist, dann meldet sich das Bedürfnis, meinen Horizont quasi „lokalphilosophisch“ zu erweitern. Obwohl ich aus einer Not heraus hier gestrandet bin, war es dennoch meine Entscheidung. Trifft ja auf alle andern Leute hier ebenso zu: Sie haben sich entschieden, die Lebenszeit ihres Alltags hier und nirgends anders aufzubrauchen.
Der Inhalt unserer Lebenssanduhren rinnt so in Hoyerswerda durch die schmalen Schlitze in die Glasbäuche der abgelegten Lebenszeit. Körnchen für Körnchen, Tag für Tag, Woche für Woche und häufen sich zu respektablen Halden auf. Wie viele Monate lebt ein Mittfünfziger wie ich noch? Sagen wir etwa 250-350 Monate. Es wird überschaubar. Wenn ich dann in die „philosophische“ Anschauung meiner unmittelbaren Aufenthalts-Lokalität hinein transzendiere und illuminiere, schaue ich jeden einzelnen, dem ich begegne, staunend an, und frage mich: Was machen wir ausgerechnet in diesem Provinznest? Hier in der Lausitz, wo sich die Wölfe Gute Nacht sagen? Es gibt ein Wort, das ich sehr mag. Es heißt „Gesellschaftsvertrag“. Der französische Philosoph Jean- Jacques Rousseau hat darüber mal ein ganzes Buch geschrieben.
Ganz gut fasst das Wort zusammen, worauf ich hinauswill: Wir alle hier gehen miteinander, mehr unbewusst als bewusst, einen Gesellschaftsvertrag ein, versammelt auf einer begrenzten von uns auserwählten Fläche, die sich Hoyerswerda nennt. Was fangen wir miteinander an? Außer, dass wir hier wohnen, unser Geld verdienen, es ausgeben und flüchtig aneinander vorbeihuschen. Was dürfen wir von dieser Stadt erhoffen, von unserem gemeinsamen Lebensmittelpunkt? Was können wir hier die nächsten Jahre tun? Geduldig suche ich nach Hinweisen, Texten, Inschriften, die mir darüber Auskunft geben. Ich suche sozusagen die „Bibel“ der Stadt, ihre „Heilige Schrift“. Ich brauch so was.
Und jetzt bin ich bei meinem Knabberknochen, dem Leitbild. Ich kenne nämlich keinen anderen Text, der mir genau darüber besser Auskunft gibt. Mir ist natürlich klar: das Leitbild ist von einer kleinen Gruppe von Menschen ausgedacht worden. Ich tippe, zwischen fünf und zehn Leute haben textlich ernsthaft dran gearbeitet. Und ich schätze, etwa 50 bis 100 Leute haben seine Entwürfe reflektiert und kommentiert, worauf der Text umgeschrieben wurde. Ich nehme auch nicht an, dass es mehr Leute sind, die es überhaupt gelesen haben. 50 bis 100 von ca. 30.000 Hoyerswerdaer Bürgern! Ist das viel? Ist das wenig? Ich weiß es nicht. Zumindest 30 Leute (Stadträte!) haben darüber befunden und es mehrheitlich zum offiziellen Papier, zur gemeinschaftliche Vision der Stadt erhoben. Zum Moralkodex, wie man zusammenleben will, was und wer man hier sein will – als Gemeinschaft, als Bürgerschaft, als Großherde von Leuten, die entschieden haben ihre Lebenszeit auf dieser Fläche und unter diesen Gegebenheiten miteinander zu teilen, sich zu begegnen, sich auszuhalten…
Das Leitbild ist die eine Seite der Münze. Es sagt nur, was man möchte. Nicht, wodurch es Realität wird. Aber auch dazu findet man mittlerweile einen Text, die zweite Seite der Münze, das tabellarische „Handlungsprogramm.“ Hier lässt sich nachlesen, was genau geplant und getan werden soll. Es ist zugleich Zeugnis bürgerschaftlicher Kreativität, die in der Stadt herrscht und die es vermochte als Projektsammlung durch die Filtersysteme der Gremien durchzusickern und sichtbar zu werden. Beides, Leitbild und Handlungsprogramm sind der Gesellschaftsvertrag von Hoyerswerda. Reden wir also demnächst ernsthaft und immer mal wieder darüber. Er ist unser Spiegel. Er zeigt uns und Fremden schonungslos, wer wir als Bürgerschaft sind und was wir tun.
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung/Hoyerswerdaer Tageblatt 18./19.11.17)