Aus den Gewalttagen des Herbstes 1991 in Hoyerswerda lässt sich einiges lernen – auch für die Bundestagswahl morgen.
Es ist die Woche, in der „es“ vor 26 Jahren passierte – hier in Hoyerswerda. Ich komme als Neuling irgendwie nicht drum herum, mal etwas dazu aufzuschreiben. Auch weil wir morgen wählen. Ich fange mit Entlegenem an: Langsam dämmert mir, welche Bedeutung das Gaskombinat Schwarze Pumpe für die Stadt hatte, der „volkseigene“ Superkonzern, von dessen Mitarbeitern hier circa 15 000 lebten. Was für eine Anballung von Arbeitskräften!
Die Menschenansammlung vergrößert sich erheblich, wenn man Partner und Kinder der Belegschaft dazuzählt und man darf sie sich noch vergrößerter vorstellen, wenn man Strukturen und Personal dazurechnet, die diesen produktiven Glutkern der Region umgaben: Schulen, Versorgungs-, Freizeit-, Kultur-, Gesundheits-Einrichtungen. All das, damit der Glutkern sich physisch Tag für Tag erholen und „reproduzieren“ konnte. Jedes Jahr, erzählte man mir, wurden zwischen Stadt und Kombinat Kommunalverträge ausgehandelt, in denen es um soziale Leistungen ging, die Pumpe für Hoyerswerda erbrachte. Irgendwie eine faszinierende Vorstellung: Ein Unternehmen leistete eine direkte „Wertschöpfungsabgabe“ an jene Stadt, die seine Wertschöpfungsarbeiter beherbergte und versorgte! Anders ist es heute, wo die Kanäle einer solchen Umverteilung undurchschaubarer geworden sind …
Und dann 1989/90 – wir nähern uns dem Punkt, um den es mir geht – der Zusammenbruch der DDR. Die demokratische Abwahl ihres ökonomischen Systems durch den DDR-Bürger selbst, per mehrheitlicher Zustimmung für das bundesdeutsche, kapitalorientierte Marktsystem. Eines der Wahlergebnisse: Das Superunternehmen Pumpe wird ins Haifischbecken des Marktes gestoßen und ungeschützt filetiert. Der so wichtige Zusammenhang zwischen den in Pumpe erzeugten wirtschaftlichen Gewinnen und ihrer Ummünzung in lokalen, sozialen Reichtum zerreißt, diese Gewinne fließen nun in andere Töpfe. Schaut man genau hin, ist der Filetierungsprozess von Pumpe eine Gruselgeschichte. Sie gleicht einem Shakespeare-Drama.
Schließlich kommt es 1991 zum dramatischen Höhepunkt, als – nun sind wir beim Punkt – diese schrecklichen Septembertage ausbrechen und damit auch die größte und nachhaltigste „Marketingkampagne“ ausgelöst wird, die Hoyerswerda je erlebte. Mitten hinein in den ungeheuerlichen ökonomischen Filetierungs- und Abwicklungsprozess von Pumpe explodiert der Kessel an einer Stelle der Stadt. Und statt dass die sozialen Verlierer dieses Prozesses sich vereinen, spalten sie sich auf. Zwei Gruppen der Bürgerschaft stehen sich gegenüber: teils langjährige Vertragsarbeiter und Einheimische. Zugleich betritt eine neue Gestalt die politische Bühne: der biodeutsche „Wutbürger“, der einen Schuldigen für seine Situation ausgemacht hat und sich an ihm auslässt, am Ausländer.
Jene Art Bürger kann man übrigens gut in Hans Magnus Enzensbergers Büchlein „Schreckens Männer – Versuch über den radikalen Verlierer“ studieren. Oder man tut das mit der Internetdokumentation „Hoyerswerda-1991.de“, die mit Hilfe von jungen Leuten aus Hoyerswerda entstand. Sie waren 1991 Kinder oder noch gar nicht geboren und fanden 20 Jahre später keine Antworten auf ihre Fragen nach dem „ominösen“ Pogrom. Die Website ist eine Dokumenten-Schatztruhe, die die Hoyerswerdaer selbst weiter füllen könnten – auch mit Dokumenten der Veränderung. Irritierend, dass der QR-Code der Seite auf dem Mahnmal im Stadtzentrum fehlt. Und der Wutbürger von 1991? Ist heute 26 Jahre älter …
Nun gehen wir also wählen. Mein pessimistischer Redakteur sagt mir voraus, dass die Alternative des „Nationalen“ wieder enorm zieht. Und ich dachte immer, die meisten Leute kümmern sich nicht um nationale Identität, sondern um ihre eigene und die der Leute, die ihnen nahestehen. Gibt es ohnehin nicht nur eine einzige Nationalität? Die Nationalität Mensch? Kurz: Der Spalt zwischen „einheimischen“ Bürgergruppen und von „draußen“ Kommenden scheint wieder weit geöffnet. Als wäre der Kernkonflikt der Verteilungskampf zwischen Deutsch und Nichtdeutsch, und nicht der zwischen Superreich und Arm. Ich muss an Alan Moore denken, den Comic-Autor von „V wie Vendetta“. Er litt sehr an der „nationalen Wende“, die zum Brexit führte und meinte (Achtung, es wird vulgär!): „Eine Protestwahl zu machen ist, als ob man eine Nacht in einem Hotel verbringt, einem das Zimmer nicht gefällt und man aus Protest ins Bett kackt – nur um festzustellen, dass man in einem vollgekackten Bett schlafen muss.“ Dann schnuppere ich mal am Montag, wenn ich zur Therapie hinke, wonach es in meiner neuen Heimatstadt riecht…
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung/Hoyerswerdaer Tageblatt 23./24.09.17)