Die Hoyerswerdaer sind träge? Das kann man denken, man kann aber auch zu einem ganz anderen Schluss kommen.
Der Satz des Mannes sitzt mir in den Knochen, der mit Volkes Stimme, in meiner letzten Kolumne von mir zitiert, rügte: „Der Bürger ist an sich träge, er braucht eine starke Führung, sonst läuft nichts.“ Mein um mich besorgter Redakteur schrieb mir: „Ich finde es gleichzeitig witzig wie auch schade, dass Du Dich nun offenbar durch dieselben Gefühle quälst wie wir alle schon vor Jahren. Schade, weil ich weiß, wie sich das anfühlt. Ich schicke Dir mal einen Text von 2011 (‚Wie sieht Hoyerswerda in 40 Jahren aus?’) zu diesem Thema. Die (meisten) Hoyerswerdaer wissen schon, dass sie im Auge des Orkans sitzen.“
Mag sein, dass ich in der Chronik meiner Gefühle Nachholebedarf habe in Sachen Ernüchterung. Brav lese ich im Artikel meines Redakteurs: „…die Studie „Hoyerswerda 2050“ (werde) vorerst unter Verschluss bleiben.“ Befürchtete man damals vor sechs Jahren Unmut? Mein Redakteur betätigte sich kurzerhand als investigativer Journalist. Ich verkürze mal, denn er enthüllt nichts, was Sie heute nicht slängst wüssten: „Der Anthropologe Felix Ringel, der die schrumpfende Stadt erforscht hat, fasst das Ergebnis der Studie lakonisch zusammen: ‚Hoy wird weniger und älter. Das wiederum haben wir auch vorher schon gewusst.’ Und: Wie bitteschön sähe denn eine Stadt mit 9.000 Leuten genau aus? Es werde also nichts anderes bleiben, als munter weiterzuleben. Dann könne man 2050 auch sagen, ob die Wissenschaft recht gehabt habe oder nicht, so Ringel.“
Munter weiterleben? Wie immer meine eigenen Gefühle dabei auch hüpfen mögen, bestehe ich stoisch auf meinen Studiermodus. Obwohl ich 2050 längst tot bin, interessiert mich die katastrophische Frage sehr: Können die Bürger ihre Stadt gemeinschaftlich lebendig halten oder wird sie schleichend in zusammenhangslose, dahindümpelnde Parallel-Milieus zerfallen, die sich einander befremdend anschauen und ihre gegenseitigen Vorurteile hämisch pflegen und ausleben? Wenn mich diese „katastrophische“ Frage (zyklisch) rappelt, schlage ich vor meinem Bildschirm Wurzeln, hänge vor der Website der Stadtverwaltung und stöbere in dieser unglaublich vollgestopften Krabbelkiste und Fundgrube. Ich folge Links und Sub-Sub-Sub-Seiten und stoße auf ein verblüffendes Universum bürgerschaftlicher Aktivität in der Stadt, genauer gesagt auf die elektronischen Abbilder dieses Universums. Originale kenne ich bislang nur in winzigen Ausschnitten. Ziemlich schnell wird mir klar: Es ist Unsinn anzunehmen, der Hoyerswerdaer Bürger sei träge. Humbug, Blödsinn, Quatsch mit Soße! Wie eine Landschaft kleiner und großer Inseln scheint die Stadt von Bürgergruppen durchzogen – als säße ich geologisch gesprochen – inmitten eines riesigen unübersichtlichen und zerklüfteten Hoywoy-Archipels.
Als ich mich mordsgeduldig durch die Vereinslisten und Beiräte auf der Stadt-Website klicke, ich habe keine Ahnung wie viele davon mittlerweile elektronische Leichen sind, stoße ich auf große bürgerschaftliche „Player“ wie den Kunstverein, den Lausitzer Seenland-Sportbund, die Kufa oder gemeinnützige GmbHs wie die Zookultur-Gruppe, die Lausitzer Werkstätten für behinderte Menschen… Vielleicht schließt ja der neue Förderverein des Zuse-Computer-Museums bald zu diesen „Big Playern“ auf? Und ich entdecke eine riesige Anzahl kleinerer Mitspieler. Ein irres Wimmelbild gemeinschaftlicher Strukturen! Bei all den Selbstbezichtigungen vom „trägen Bürger“ und der Sehnsucht nach einer „starken Führung“, die ersetzen soll, was die Bürger nicht mehr glauben selbst zu wuppen, frage ich mich: Was weiß der Hoyerswerdaer Bürger über die gewaltigen kulturellen und sozialen Kräfte, die sich in seiner Stadt noch ballen und agieren. Noch. Trotz „Orkanauge“ und „Fluchtbewegung“.
Ich frage mich, ob der neoliberale Wortschatz mit seinen eisigen Benennungen vom „Portfolio einer Stadt“ oder einem „professionellen Standort- und Stadtmarketing“ in der jetzigen, heiklen Scheideweg-Situation nicht an der eigentlichen Sache vorbeiformuliert. Was, wenn es gar nicht so sehr darum ginge von außen „Human- und Investitionskapital“ oder „touristische Kaufkraft“ in die Stadt zu schmeicheln? Was, wenn es eher anstünde, die Bürger dringend an sich zu selbst erinnern und sie sich noch genauer kennenlernen zu lassen, damit ihre Lust, Neugier und schräg-kauzige Fantasie sich hitzig entflammen möge? Für die eigene Bürger-Stadt. Was, wenn es um im müden, alten Wortschatz zu bleiben, um ein „Stadtmarketing nach innen“ ginge? Statt auf eine „starke Führung“ zu warten… Na was?
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung/Hoyerswerdaer Tageblatt 13./14.05.17)