Das vom Stadtrat gebilligte Leitbild 2030 kann eine wuchtige Waffe werden – wenn man es wirklich als Leitschnur nutzt
Mein Berliner Untermieter hat’s vermasselt: Meine Fluchtür nach Berlin ist zugeschlagen, die stadtbürgerlichen Rechte dort habe ich verloren. Die Wohnung – weg! Verdampftes Verdrängungsopfer des siedenden Berliner Wohnungsmarktes. So bin ich seit dem 1. Juni hochoffiziell Hoyerswerdscher„Vollbürger“ und neues lokales „zoon politikon“ (googlen Sie’s – sind Sie nämlich auch!). Zwei Tage vorher machte ich neugierig Bekanntschaft mit der politischen Elite meiner neuen Wohnsitzstadt: Ich besuchte erstenmals eine Stadtrat-Sitzung.
Ich machte dabei gleich zwei unglaubliche Entdeckungen, die mich innerdeutschen Migranten mehr als trösteten. Ich zitiere Ihnen mal was: „Wie wollen und wie werden wir 2030 in unserer Stadt leben? Wie fühlt sich unser Hoyerswerda von morgen an? Wie wollen wir unsere außergewöhnlichen Potenziale, besonderen Qualitäten und Stärken in eine aussichtsreiche Zukunft mitnehmen und was machen wir daraus? Wie schaffen wir es, vielfältig und miteinander verbunden zu sein? Welche Verantwortung übernehmen wir für eine erfolgreiche Entwicklung des Umlandes und der Region Lausitzer Seenland? Vor allem: Wie gelingt es uns, gemeinsam den anhaltenden Einwohnerrückgang durch zielgerichtetes Handeln perspektivisch zu stoppen?“ Was für ein Empfang für einen Neuankömmling wie mich!
Das Zitat stammt aus der Präambel des mehrheitlich vom Rat verabschiedeten Leitbildes Hoyerswerda 2030, dessen Überarbeitung ich seit meinem unfreiwilligen „Stranden“ hier ausschnitthaft wahrnahm, quasi als intellektuelles Hobby eines plötzlich körperlich Schwerbehinderten. Staunend las ich das zweiseitige Leitbild. Starrte den Text verblüfft an wie einen Orakelknochen oder eine Tontafel, die ersten Schriftträger unserer Kultur, und murmelte: „Sprich, Text! Was willst du mir eigentlich sagen? Sprich!“ Geduldig schaute ich ihn an, bis er mir tatsächlich ein Echo gab und zu mir sprach, bis ich seine Rhetorik verstand. Kurz gesagt: der Text ist eine ungeheuere Anballung von Beschreibungen eines „idealen Stadt-Zustandes“. Lassen Sie sich nicht irritieren durch die Eigenheit der deutschen Sprache. Die vielen kleinen, niedlichen „Ist-Sätze“ sind keine Ist-Zustands-Beschreibungen der Stadt, sondern (Achtung!) sie stellen Visions-Beschreibungen dar. Satz für Satz. Aufgefädelt wie auf einer Zähl- und Gebetskette gleich einem Rosenkranz. Genau der richtige Tost für mich Wurzelsuchenden!
Sie erinnern sich? Ich nicht, ich musste nachschauen: Der Rosenkranz hat 59 Perlen, die großen Perlen gliedern die kleinen und strukturieren die Gebetskette für das Rosenkranzgebet. Wohl ähnlich darf man diesen Leitbild-Text auffassen – als Rosenkranz, als „Paternosterschnur“ für Hoyerswerda, den man klappernd herunterbeten könnte. Schnell erkennt man im Text nach der Präambel vier Hoyerswerdsche „Gebote“. Ich zählte die Sätze darunter durch, und kam auf insgesamt 3×8 und 1×7 Sätze. Vergab ihnen 31 durchgehende Nummern – und bestellte sie als „Paragraphen“ ein, als – wie das Wort sagt – das „Danebengeschriebene“. Ein typisches Merkmal von Texten, die zur Kategorie des sogenannten „aufzählenden Schrifttums“ gehören, wie bei Gesetzen, Verträgen oder Lehrbüchern und die man zur Einteilung und zur besseren Bezugnahme in Absätze, Sätze, Nummern und Buchstaben unterteilt.
Machen Sie das mal! Und dann leisten Sie sich das tröstliche Vergnügen, das Leitbild herunterzuleiern wie das Gebet eines tugendhaften Stadtbürgers, mit dem auf- und abschwellendem Singsang einer frömmelnden Stimme. Ich fühlte mich wie in einem freiwillig auferlegten Einbürgerungstest, erhoben und vereidigt zum „zoon politikum“ von Hoyerswerda. 1. Gebot: „Hoyerswerda – zusammen leben, helfen, schützen.“ 2. Gebot: „Hoyerswerda – städtisch leben, umbauen, neu erfinden“. 3. Gebot „Hoyerswerda – inspirieren , engagieren, teilen“. 4. Gebot: “Hoyerswerda – gut leben in unserer Heimatstadt“.
Ganz im Ernst: Das Leitbild kann eine sehr unbequeme Waffe werden, nämlich ein Hammer. Jedes der vier Gebote und jeder der 31 Paragraphen sind „Heiliger Nägel“, mit dem sich jedes einzelne städtische Projekt und jede Maßnahme, jede Planung und jedes Konzept festnageln lässt – auf den versprochenen visionären Gehalt hin. Ist es Fort-Schritt hin zum „idealen Zustand“ von Hoyerswerda oder ist es Rück-Schritt, weg davon? Das verspricht hübsche, rhetorische Metzeleien unter den Stadtbürgern und niveauvolle Debatten, wenn man sich tief versenkt ins Fleisch der konkreten Maßnahme. Jedoch, verehrtes Lesepublikum! Das ist nur die Hälfte meiner unglaublichen Entdeckung. In meiner nächsten Kolumne werde ich sie Ihnen vervollständigen. Versprochen!
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung/Hoyerswerdaer Tageblatt 10./11.06.17)