Ich darf im Rahmen des Projekts „30 Jahre Kulturfabrik Hoyerswerda“ zwei Beiträge für ein Porträt-Buch machen. Ich entscheide mich für das Interview. Sie sind zu lang für das Buch. Das Kürzen überlasse ich dem Herausgeber. Hier der Originaltext.
Thomas: Geboren 1965 hier in der Frauenklinik Hoyerswerda, wo Tausende von uns geboren wurden. Meine Mutter kommt aus dem Erzgebirge, mein Vater kam aus Lohsa. Er war Bergmann. Erst als Grubenlok-Fahrer im Tagebau. Dann später Schichtleiter in Burghammer und Welzow im Vorschnitt bei der Abraumförderung. Meine Mutter war Schulsekretärin an der Oberschule 16 im WK8, komplett vom Anfang bis zum Ende der Schule. Ich hab‘ noch zwei Schwestern, die in den 60-er Jahren geboren wurden.
„Weil Schlosser den Kommunisten
zu dämlich oder zu poplig war
hieß es Maschinen- und Anlagen-Monteur“
Olaf: Steht noch was von den Häusern deiner Kindheit?
Thomas: Alles weg. Die Kindereinrichtung, die Schule und auch der Block, wo wir großgeworden sind. Reinhold-Huhn-Straße 4, heute Scadoer Straße. Ja, das war schon etwas bitter, weil dort meine Eltern vom Erstbezug 1967 bis zum Abriss 2007 drin gewohnt haben. Da fährt man heute noch wehmütig vorbei. 1971 bin ich in die Schule gekommen. Oberschule 14. 1981 nach Lauchhammer. An die riesige Schwermaschinenbau-Bude TAKRAF, die hat die schweren Schaufelradbagger gebaut, wo Gundi auch draufgesessen hat. Mit Stahlbau und Gießerei. Und weil Schlosser den Kommunisten zu dämlich oder zu poplig war, hieß es Maschinen- und Anlagen-Monteur. Mit Abitur. Ich war dann die Woche über da. Internat. Und bin Donnerstag oder Freitag sofort wieder zurück nach Hoyerswerda abgehauen. Das hat mit dieser kulturellen Explosion oder Revolution zu tun, die damals in Hoyerswerda mit dem FMP anfing. Das ging 1979/80 los da waren wir noch in der 10. Klasse.
Olaf: Du bist ja nun auch Musiker. Wie kam es dazu?
Thomas: Glücklicherweise hatte ich die weltberühmte Gudrun Söhnel als Klassenlehrerin. Eine sehr charismatische Überzeugungstäterin, die als Musik- und Deutschlehrerin Singeklubs an der Schule gründete. Wir kamen in der 6. Klasse zu ihr und die hat dann sofort geguckt, wer hat da halbwegs Interesse, Lust oder musikalische Ambitionen. Sie hat das sehr strategisch gemacht, erst mal ein paar Leutchen an die Gitarre geprügelt. Und als die dann fit waren nach einem Jahr, wurden der Singeklub gegründet.
Olaf: Und du warst einer von den Gitarristen?
Thomas: Ja. Alles, was ich später musikalisch gemacht hab‘, hab‘ ich ihr zu verdanken. Dass sie uns Pubertierende an die Kandare genommen hat, denn du hast natürlich kein‘ Bock gehabt zu üben. Find‘st es zwar gut mit Gitarre, wegen Rockmusik und Trallala, aber dass man da mal üben muss, ist ja nun schwierig und da war sie knallhart. Die war als Lehrerin sehr beliebt, aber auch gleichzeitig sehr streng. Die hat im Unterricht manchmal Brüller losgelassen, da saßen alle kerzengerade. Oder sie hat auch mal ihre knallroten High-Heels durch die Gegend geschmissen und so. Aber wir haben sie sehr gemocht.
„Und der, der am schlechtesten an der Gitarre war,
der musste an den Bass. Und das war ich.
Und Gundi ging das ja auch so.“
Olaf: So ein Singeklub, der muss ja dann auch mal auf die Bühne, mit seinem Repertoire.
Thomas: Wir hatten dann viele Auftritte und wurden als kulturelle Umgarnung von Parteitagen und Konferenzen quasi verheizt. Das angenehme an Frau Söhnel war, dass sie definitiv keinen Bock hatte, auf „Sag mir wo du stehst“ und diesen ganzen Oktoberklub-Schnulli. Sie hat aus diesem riesigen Liedgut-Portfolio, was es ja schon gab, nicht nur rote Lieder, sondern auch Alltagslieder, witzige Sachen und so reingenommen. Später hatte sie auch nichts dagegen, dass Schlagzeug dazu kam, Bassgitarre und E-Gitarre. Also wir haben die letzten zwei Jahre praktisch als kleine Rockband da schon rumgestanden. Ich hab‘ Gundi dann auch kennen gelernt. Weil der, der am schlechtesten an der Gitarre war, der musste an den Bass. Und das war ich. Und Gundi ging das ja auch so und auch Paul MaCartney. Hugo, Heiko Brumma und Wenni, das waren ja fantastische Gitarristen. Gundi war auch gut, aber längst nicht die gleiche Liga. Und dann hat Frau Söhnel mich mit Gundi bekannt gemacht. Und der hat mir die Grundzüge der Bassgitarre gezeigt. Nach der 10. Klasse ging der Singleclub dann zu Ende.
Olaf: Und wie ging‘s in Lauchhammer mit der Musik weiter?
Thomas: Da bin ich dann auch in einen Singeklub gerutscht. Das war dann allerdings ein Rückschritt. Weil, das waren zwei alte Arbeiterlied-Kampfveteranen um die 60. „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren“ und so. Da hab‘ ich dann wieder Gitarre gespielt, weil Elektro war für die Teufelszeug.
Olaf: Warum hast du dir so einen Singeklub angetan?
Thomas: Meine große Motivation war, weil ich Musik machen konnte und weil man einen Tag frei gekriegt hat. Dann hattest du Auftritte in Cottbus und so. Und dann gab’s in einem kleinen Schlösschen am Wochenende Werkstatt-Tage, da waren Gundi und die Feuersteine mit dabei. Ich guck auf diese Zeit nicht böse zurück, muss darüber ein bisschen schmunzeln. Die musikalische Liga war das halt nicht mehr wie an der Oberschule.
„Man sucht sich so seine Helden, seine Heroen.
Und dann wird man letztendlich wie die.“
Olaf: Und deine Verbindung zu Hoyerswerda?
Thomas: Damals ging es mit dem FMP (Feuersteins Musikpalast, ein Keller im Jugendklub „Ossi“) los. Jeden zweiten Freitag dort zu sein, egal wo man in der Welt war, das war das Nonplusultra. Das war das zweite Zuhause. Die Veranstaltungen im Jugendklubhaus. Die Kulturtage – eine Woche lang Programme, das war super interessant. Wenn du jung bist, da saugst du alles auf, was cool ist, was aufmüpfig ist, was nicht systemkonform ist. Wir waren nicht totale Opposition, aber glühende DDR-Bürger waren wir auch nicht. Die ganze Szene, die Kleinkunst, die Folkmusik hat ja Anspielungen gemacht auf das sich Komisch-Wichtigmachen dieses DDR-Gebildes, was immer maroder wurde, immer verlogener. Und wenn man damit aufwächst, Tag für Tag, Woche für Woche, dann macht das ja was mit einem. Man sucht sich so seine Helden, seine Heroen. Und dann wird man letztendlich wie die.
Olaf: Und nach Lauchhammer?
Thomas: Dann bin ich zum Studium gegangen. Nach Karl-Marx-Stadt. Eigentlich wollte ich nach Dresden, weil das näher an Hoy war. Der größte Teil von uns hat deswegen in Dresden studiert. Einige dann auch noch in Freiberg wegen der Bergakademie, Braunkohle und Trallala. Und relativ wenige noch weiter weg. Das waren dann schon die Exoten. Das war von mir nicht so gewollt. Aber in Dresden war einfach kein Studienplatz mehr frei. Ich hab‘ dann in Karl-Marx-Stadt Textilmaschinenbaukonstruktion studiert, bin dann aber zur Klima- und Trocknungstechnik gewechselt. Hab‘ halt irgendwas studiert. Wie alle. Hauptsache war für uns, bloß nicht nach Pumpe, bloß kein Schichtbrot. Bloß das nicht.
Olaf: Und Hoyerswerda?
Thomas: Punktgenau als ich nach Karl-Marx-Stadt ging, hat der Laden in Hoyerswerda aufgemacht. Das FMP hat dann ja nicht mehr lange gemacht. Der Laden war aber noch interessanter. Da war jede Woche, jeden Tag irgendwas mit Kultur los. Das war ein würdiger Nachfolger vom FMP. Und nicht umsonst sind diverse FMP-Leute dort gelandet. Das war ein Magnet, ein Zuhause. Der Freundeskreis, die Clique wurde immer grösser, sodass ich mir anderthalb Jahre lang fast jedes Wochenende diese Tour nach Hoyerswerda angetan hab. Zweieinhalb bis drei Stunden, manchmal länger. Als junger Mensch haste ja Energie wie ein Pferd, da kannst du mal drei Abende durchmachen mit vier Stunden Schlaf.
„Die Klub-Macher und das Publikum
verschmolzen zu einem Ganzen.
Da explodierte quasi die Kreativität.“
Olaf: Was hat dich denn so an den Laden gebunden?
Thomas: Das Publikum vom Laden war dermaßen ambitioniert, dass wir dann auch selber was machten. Aus Spaß und Vergnügen wurden drei bis vier Stunden Programme und Varieté-Geschichten selber kreiert. „Müllers Büro“, ein österreichischer Film, der war damals unglaublich kultig, der war so schrägt in seinem Humor, dass wir Szenen aus dem Film nachgespielt haben. Das alles passierte neben dem Studium und der ganzen Fahrerei. Die Klub-Macher und das Publikum verschmolzen zu einem Ganzen. Da explodierte quasi die Kreativität. Das war natürlich alles auch eine Reflexion auf das, was mit dieser absterbenden DDR und der Frustration zu tun hatte. Da war viel Destruktion im Spiel, im Künstlerischen. Wir haben keine Schaufensterscheiben eingeschmissen. Aber in dem, was wir so gemacht haben, war immer sehr viel Kaputtmachen, Schreien, Brüllen, Schwarzmalen. Aber mit Spaß, nie komplett duster. Wir waren ja keine Grufties. Da standen wir in einer Tradition zu Gundi. Der ja nicht diesen intellektuellen Hintergrund hatte, sondern viel bodenständiger war. Und die supertollen Texte. Wir hatten keine deprimierte, pessimistische Stimmung.
Olaf: Wir sind jetzt in der Wendezeit 1989?
Thomas: Ich hab studiert bis Februar `89. Und bin dann direkt nach Berlin. Hab‘ beim VEB Kühlbetrieb Berlin angefangen, der verantwortlich war für die Kühlung der geschlachteten Schweine im Zentralviehhof. Ich hatte dann eine Wohnung. Zweiter Hinterhof Parterre. Wie hat Lakomy gesungen bei Das Haus, wo ich wohne? „Das Klo, das ist innen, das ist schon enorm, da sitz ich und grüble über Inhalt und Form.“ Weil ich nach Hugo, als einer der ersten von den Hoyerswerd’schen in Berlin gelandet war, war das dann natürlich der Anlaufpunkt für alle, die mal nach Berlin kamen. Bei mir lag immer irgendjemand in der Wohnung rum, wenn ich früh auf Arbeit geradelt bin. In den 90-er bin ich dann nicht mehr ganz so viel in Hoyerswerda gewesen. Weil Berlin mit dem Fall der Mauer natürlich komplett explodiert ist.
„Ich hab‘ gemerkt, dass mich meine eigene
Verlotterung total anödet, langweilig ist und blöd.
Und dann bin ich freiwillig zum Arbeitsamt.“
Olaf: Und deine Arbeit?
Thomas: Der Kühlbetrieb war logischerweise mit seiner alten maroden Technik chancenlos gegen die Westberliner Konkurrenz. Dann war ich ein halbes Jahr lang arbeitslos, beim Arbeitsamt angestellt. Hab‘ aber nach `nem halben Jahr gemerkt, dass das für meine Mentalität total grausam ist, ganz schrecklich. Kein richtiger Plan, kein Zwang. Du schläfst bis um zwölf, weil bis um zwei Party angesagt war. Der Franzklub war ja bis um sieben früh auf, die anderen Klubs auch. Und dann merkst du im Winter, dass es schon dunkel ist, wenn du gerade wach bist. Ich hab‘ gemerkt, dass mich meine eigene Verlotterung total anödet, langweilig ist und blöd. Und dann bin ich freiwillig zum Arbeitsamt und hab‘ gesagt: Ich will’ne ABM-Stelle.
Olaf: ABM – Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.
Thomas: Ja genau. Und da hab‘ ich dann beim Bezirksamts Prenzlauer Berg angefangen im Hochbauamt, in der Abteilung, die so Heizung saniert haben. Das war interessant, aber auch frustrierend. Weil, dort verabschiedete sich einer nach dem anderen jeden Monat mit einer großen Kaffeerunde in Richtung West-Ingenieurbüros. Ich hab‘ da weder was gelernt, noch irgendeine Perspektive gesehen. Später habe ich gedacht, wärste doch mal im öffentlichen Dienst geblieben. Egal. Jedenfalls habe ich nach zwei Monaten angefangen mich zu kümmern. Und dann kam eine Nachricht aus Mannheim, aus dem tiefsten Westen von einer sehr renommierten Kältetechnik-Firma. Die haben für das neue Büro in Berlin einen Außendienstler gesucht. Für Vertrieb und Verkauf.
Olaf: Für den Außendienst im eigenen Land.
Thomas: Ich hab‘ dort angeheuert und bin zur Einarbeitung für ein Jahr nach Mannheim gegangen. Ich hatte dann das Glück, als Parallele zu den total irren Berliner 90-er-Jahren, gleichzeitig als Pendant, als Gegenveranstaltung, Woche für Woche das westdeutsche konservative, eingeschlafene Immer-schon-so-Seiende-Rheinland-Pfalz-Baden-Württemberg-Trallala kennenzulernen. Das war schon krass. Freitag abends nach der Arbeit mit Mitfahrzentrale zehn Stunden nach Berlin, das war ja damals schon eine gigantische Ost-West-Arbeitsbewegung, total mühselig. Dann haste das Wochenende nicht mehr geschlafen. Und bist Montagfrüh um 3 los. Irgendwo in Schöneweide, mit der Mitfahrzentrale und dann pünktlich um 9 auf Arbeit. Kommst raus aus dieser Spaßexplosion Berlin in eine Atmosphäre des Hier-ist-schon-immer-alles-so-gewesen-und-hier-wird-sich-auch-nichts-ändern.
„Ich habe eine Menge gelernt über
unsere Brüder und Schwestern im Westen.“
Olaf: Und wie war’s da?
Thomas: Die Kollegen waren total nett, ich kann mich überhaupt nicht beschweren. Aber das Interesse an dieser komischen DDR, die da plötzlich angeklebt wurde, das war äußerst gering. Ich habe eine Menge gelernt über unsere Brüder und Schwestern. Die Brigade ist meine zweite Familie und wir machen Brigadefahrt oder Geburtstag – das war eigentlich unbekannt. Das muss es mal gegeben haben, in den 70-er Jahren, sagte mein Kollege. Privat haben die meisten so gut wie nichts miteinander zu tun gehabt. Hatten kein Interesse daran. Die Kollegen hatten untereinander auch so eine seltsame Konstruktion zwischen Siezen und Duzen. Herr So-und-so, kannst du mir mal bitte den Kaffee rübergeben. Ich hab‘ das beste aus der Zeit gemacht. Durch die Gegend stromern. Nina Hagen in Heidelberg angeguckt. Und dann war ich wieder zurück. Als Außendienstler, der mit seinem Auto von Karl-Marx-Stadt bis nach Rostock fährt und Großkälteanlagen für Schlachthöfe und für Brauereien verkauft. Da hab‘ ich natürlich den Niedergang erlebt. Die paar Buden, die es noch gab, die haben kaum investiert. Da war einfach nicht genug Verkaufspotential da. Dann haben die Amis den Mannheimer Laden gekauft und erstmal ein amerikanisches Management reingesetzt. Und dann war Schluss mit der guten alten westdeutschen Mentalität. Die Amis haben dutzendweise Außenbüros dicht gemacht. Ich hab` mir die Abfindung eingeheimst und bin dann zu einer Firma, die saßen in Thüringen und haben Klima-Simulations-Technik gemacht. In Prüfkammern Handys, Leiterplatten, Baustoffe und sowas getestet. Die hatten dann aber nicht mehr das Geld, sodass ich gesagt habe, dann mach ich freiberuflich als Handelsvertreter für euch weiter.
Olaf: Freiberuflich? In welchem Jahr sind wir jetzt?
Thomas: 2000. Ein anderer Grund, warum ich Freiberufler wurde, war… und jetzt sind wir wieder bei der Gitarre…
„Ich stellte fest, oh, das sind ja bloß
drei Akkorde, höchstens vier, kein Jazz,
wo man sich die Finger bricht…“
Olaf: Ach ja, die Gitarre, an die dich Frau Söhnel geprügelt hatte.
Thomas: Nach der Lehre hat es nicht völlig aufgehört mit der Gitarre. Während des Studiums passierte da nicht viel. Eine Band gründen, da war ich nicht gut genug. Wir haben viel gejamt, aber nur für uns und im Laden. Habe was beigesteuert, wenn Programm war. 1991 hat ein Kumpel in Berlin, der in Budapest Straßenmusik gemacht hat, Amerikaner kennengelernt, die kamen aus jüdischen Familien und die interessierten sich noch vor dem Mauerfall für dieses komische Osteuropa. Die kamen nach Berlin, fanden natürlich die jüdische Geschichte vom Scheunenviertel (ein historisches Viertel in Berlin-Mitte – OW.) total spannend. Mein Kollege hat sich in eine Frau von denen verliebt, die kam aus Santa Cruz in Kalifornien. Und da ist er hin. Die haben Weltmusik gemacht und er brachte eine sehr alte Notensammlung mit Klezmer-Musik mit. So ein ganz-klein-bisschen hatte ich das im Ohr. Es gab ja keine große Klezmer-Szene. Und ich stellte fest, oh, das sind ja bloß drei Akkorde, höchstens vier, kein Jazz, wo man sich die Finger bricht, relativ einfaches Zeug, wo es vor allem auf Rhythmus ankommt, und dann ging es los. Da ging dann meine Musikerkarriere los. Im Herbst 1993. Beim Geburtstag der Oma von meinem Kumpel. Dann kam ein Sopransaxofon dazu und dann war’n wir irgendwann fünf, sechs Leute.
„Das geht dann in den Bereich, dass die Deutschen
ihre Volksmusik verloren haben.
Das ist ja eine tragische Geschichte.“
Olaf: Wie habt ihr euch genannt?
Thomas: Di Grine Kuzine. Das ist ein altes jiddisches Lied über ein junges Einwandermädel, das wegen der Pogrome aus Osteuropa flieht, in New York ankommt und dort untergeht in diesem Moloch. Und nach dem Titel haben wir uns benannt. Und dann landest du natürlich ganz automatisch in dem ganzen jüdischen Hintergrund. Egal ob du das willst oder nicht. Für die Westberliner Juden war das natürlich äußerst strange. Wir wurden auch ständig gefragt, warum wir diese Musik machen. Das geht dann in den Bereich, dass die Deutschen ihre Volksmusik verloren haben. Das ist ja eine tragische Geschichte. Wir haben denen immer gesagt, weil wir keine eigene Volksmusik mehr haben.
Olaf: Kannste das mal’n bisschen erläutern.
Thomas: Es gab in der DDR die Folk-Bewegung, mit der wir großgeworden sind in der 80-ern. Die war ja engstens verbunden mit dem FMP und dem Laden in Hoyerswerda. Und die ebbte Ende der 80-er ab. Die gab’s dann in den 90-er nur noch marginal. Diese deutsche Folk-Musik war für mich der einzige legitime Nachfolger für deutsche Volksmusik. Aber die hat nie eine Breitenwirkung gehabt, dass das alle Leute irgendwie mögen. Uns machte die Klezmer-Musik einfach Spaß. Sie ist traurig, fröhlich, groovt wie Mütze.
Olaf: Ist ja eine eigenartige Seitentür, durch die du da geschlüpft bist.
Thomas: Ja. So bin ich da reingeraten. Und weil es nicht so viel Klezmer-Musik gab und die für viele interessant war, weil sie eben auch Tanz- und Feten-Musik ist, deshalb haben wir ab Mitte der 90-er gespielt ohne Ende. Ich glaube, ich bin mehr Kilometer mit dem Kombi für die Band gefahren als für die Firma. Zu fünft, die Tuba reingestopft, die Verstärker. Nach Stuttgart gefahren. Bis nach Wien sind wir dann sogar.
Olaf: Dann haste damit auch Geld verdient?
Thomas: Ja, das waren dann nicht mehr bloß Spaßgagen wie am Anfang. Da war dann richtig Geld im Spiel und das war einer der Gründe für mich, Freiberufler zu werden. Wir haben im Jahr 40- bis 50-mal gespielt. Manche Wochenenden im Sommer vier oder fünf Mal, von Donnerstag bis Sonntag. Sonnabend Stuttgart, am Sonntagvormittag in Neustrelitz und abends nochmal in Berlin. Alle anderen Musiker, die so was machten hatten ja keinen seriösen Beruf. Ich dachte mir, wenn du als Ingenieur in deinem Beruf Freiberufler bist, da kannst du das irgendwie miteinander vereinbaren. Ich hab‘s dann 2016 aufgegeben. Weil die Quintessenz als Kleinverdien-Freiberufler ist, dass es nie richtig funktioniert in Deutschland. Einkommensteuer-Vorauszahlung. Krankenkasse. Das hat mir dann fast das Genick gebrochen. Es hat nie gereicht. Du kriegst es nicht auf die Reihe. Aber das wusste ich Anfang 2000 noch nicht.
„Wie hat Elvis gesungen?
‘You were always on my mind’”
Olaf: Und die Kufa und Hoyerswerda?
Thomas: Der Laden war ja dann quasi tot, wegen des Pogroms 1991 und dieser ganzen Atmosphäre in der Stadt, da ist ja keiner mehr in den Laden gegangen, da hat sich ja keiner mehr getraut. Der Laden ist regelrecht abgestorben. Ich war in Mannheim, hatte in Berlin eine Frau mit Kind kennengelernt, da war die Präsenz in Hoy nicht mehr so stark. Aber wie hat Elvis gesungen? You were always on my mind. Die Beziehung ist nie abgebrochen und wurde mit der Gründung der Kufa ab Mitte der 90-er wieder stärker. Wir haben dann zum Beispiel mit der Grinen Kuzine hier gespielt und haben uns auch immer mal gegenseitig besucht. Die Connection war immer da, wurde aber eben locker. Meine Eltern waren zu dem Zeitpunkt sehr mobil, die waren Senioren geworden, reiselustig ohne Ende, die haben uns nicht dringend gebraucht.
Olaf: Arbeit und Musik, Standbein und Spielbein, das war dann dein Leben.?
Thomas: Von 2001 bis 2003 bin ich in Berlin als freiberuflicher Ingenieur und Musiker Bauherrenvertreter einer Hausgruppe geworden, die sich in der Wins-Straße ein Haus gekauft hatten. Ich musste 24 Bauherren unter einen Hut bekommen. Das war extrem anstrengend. Als alles fertig war, bin ich zu einer Kumpeline nach Kreta gefahren und hab drei Wochen lang geschlafen. Jeder musste für seine Wohnung einen Eigenanteil leisten, entweder Geld oder Arbeitsleistung. Die meisten waren arme Kirchenmäuse. Einige hatten gute Jobs, haben das Geld in die Kasse geschmissen. Andere mussten arbeiten, ich natürlich auch. Ich hatte 80 Stunden Eigenleistung pro Monat und zusätzlich noch 20 bis 30 Stunden pro Woche den Job als Bauleiter, der bezahlt wurde. Also 40 bis 50 Stunden die Woche. Ich bin früh um sechs runter, hab die Firmen reingelassen und mir was einfallen lassen, womit du die Selbsthelfer beschäftigst. Weil, jeder kann ja nicht alles. Ein Viertel oder ein Drittel der gesamten Leistung haben wir selber gemacht. Und das musste koordiniert werden. Das war superspannend. Wir sind heute froh, dass wir es gemacht haben. Sind im superteuren Kiez quasi die Insel der Glückseligen.
Olaf: Und die Musik?
Thomas: Die gab’s natürlich weiter parallel dazu. In den Jahren sind wir im Jahr mindestens drei-, viermal auf Tour nach Österreich gefahren.
Olaf: Und Hoyerswerda?
Thomas: Die „spirituelle“ Verbindung blieb auf jeden Fall. Auch während der Zwischenbelegung am Stadtrand war ich immer mal wieder da. Alles, was früher schon so Spaß machte, hab‘ ich mitgemacht. Als dann die Prohibitionspartys losgingen, war ich auch immer im Team mit dabei, weil da wurden natürlich ganz viele Leute gebraucht. Ich war auch bei der legendären Sitzung im Museumssaal dabei, wo das Konzept und das Interesse abgeklopft wurde, ob die Hoyerswerdaer Bevölkerung Lust auf dieses Braugassen-Projekt hat, damit es nicht bloß als Kufa-Projekt rüberkommt, sondern als Bürgerhaus, was es dann ja letztendlich auch glücklicherweise geworden ist. Das habe ich mitverfolgt, auch den Bau.
„Mein Freund, ein Psychologe, sagt zu mir,
du hast jetzt zwei Chancen. Entweder
du wirst ein Nilpferd. Oder du ziehst die Reißleine.“
Olaf: Und wie ging dein Standbein-Spielbein-Leben weiter?
Thomas: Die Musik war zwar auf einem relativ hohen Level, aber es hat trotzdem nicht zum Leben gereicht. Ich hab‘ mich mit diversen Jobs durchgeschlagen. Es gab einen Auftrag bei einer anderen Hausgenossenschaft. Statist beim Film. Und dann hatte ich das Glück, das einer von unseren Hoyerswerd‘schen mit seiner Frau aus Berlin nach Güstrow zog. Der kannte dort einen Schlosser mit `ner riesengroßen Werkstatt. Und der brauchte einen, der kalkulieren und Arbeitsvorbereitungen für seine Angebote machen konnte. Das war mein Strohhalm. Und daraus wurden acht Jahre. Ich hab‘ immer von Dienstag bis Donnerstag oder Freitag da gearbeitet. Als freiberuflicher Ingenieur. Und konnte meine Musik machen. In einer neuen Band „Shmaltz“, die auch Eigenes machte und nicht nur nachspielte.
Olaf: Acht Jahre lang zog dann endlich mal Ruhe ein?
Thomas: Dann kam das Thema „Scheinselbständigkeit“ auf und die Bankenkrise kam mit Auswirkungen auf die Auftragslage der Werkstatt in Güstrow an. Ich hatte in Berlin wieder eine Frau kennengelernt. Und bin dann 2016 ganz zurück nach Berlin. Hab‘ meine Freiberuflichkeit aufgegeben und mich nach 16 Jahren mal wieder richtig anstellen lassen. Meine Rentenlücke abbauen. Letztens kam er mal wieder, der Zettel des Grauens mit der Rentenprognose. Na mal sehen, was wir uns dann einfallen lassen. Und dann habe ich als Projektleiter bei einer Berliner Kältetechnik-Firma angefangen für 30 Stunden die Woche. Das wurden dann schnell 50 Stunden und mehr. Du hast da ja Verantwortung über Millionenprojekte. Geld, Termine, Kalkulation. Und du bist verantwortlich für alle Fehler, die gemacht werden. Zusätzlich zu deinen eigen, auch für die Fehler deiner Monteure, der Lieferanten und die der Kunden. Du bist immer der Arsch. Da habe ich 2019 schweren Herzens gekündigt. War ja eigentlich ein dufter Job. Aber: Schlafstörungen, Essstörungen. Mein Chef todunglücklich. Aber ich hatte das Beispiel des Sich-Tot-Arbeitens bestens vor Augen. Mein Freund, ein Psychologe, sagte zu mir, du hast jetzt zwei Chancen. Entweder du wirst ein Nilpferd. Oder zu ziehst die Reißleine. Schon Anfang der 2000-er lebten zwei aus meiner Seminargruppe nicht mehr, Und warum? Totgearbeitet mit Mitte 40. Und außerdem wollte ich nach Hoyerswerda zurück, weil es meinen Eltern schlecht ging. Vater Krebs, Mutter überfordert.
„Dann habe ich meinen Traumjob gefunden.
Leider 20 Jahre zu spät.“
Olaf: Du bist nach Hoyerswerda zurück!
Thomas: Ja. Ich bin richtig nach Hoy zurück. Hab mir eine Firma bei Bernsdorf gesucht, weil ich dachte, das wird so cool wie in der Schlosserei Güstrow, was leider ein großer Irrtum war. In Güstrow konntest du dich selber kümmern, aber in dieser Bude, da gab es ein Verkaufs-, Zeit- und Überwachungscontrolling mit Dokumentation. Das war schrecklich. Ich hatte täglich eine unglaubliche Daten-Eingabe an der Backe. Hab mir das ein halbes Jahr angetan.
Olaf: Und dann?
Thomas: Dann habe ich meinen Traumjob gefunden. Leider 20 Jahre zu spät. Ich wäre gern hiergeblieben. Hab‘ echt ein halbes Jahr lang recherchiert von Cottbus bis sonst wohin. Nichts gefunden. Und bin dann schweren Herzens zurück nach Berlin. Wieder durch die Hoyerswerd‘sche Connection. Einer kennt einen, der einen kennt. Der Sohn von Hajo Donath war in Berlin bei der York-Kino-Gruppe gelandet. Und die suchten einen für die Klima- und Heizungstechnik. Kino-affin war ich schon immer und jetzt hab ich zehn Kinos zu betreuen.
Olaf: Und deine Musik, ist das jetzt endlich in der Balance?
Thomas: Es ist musikmäßig weniger geworden, aus vielen Gründen. Einerseits weil das Booking für Bands schwieriger geworden ist, weil die Veranstalter nicht mehr so viel Geld haben. Und anderseits ist so, dass die Mittfünfziger und Fast-Sechziger in allen Bands, die ich kenne, auch nicht mal so riesig viel Energie haben, da sind viele Bands regelrecht eingeschlafen.
„Die Mädels sind 20 Jahre jünger als wir
und noch voller Energie.“
Olaf: Und wie ist es bei dir?
Thomas: Na meine Shmaltz-Truppe, da ist es auch weniger geworden, weil das Booking-Geschäft echt ein undankbarer Job ist, ich hab das ja zehn Jahre gemacht, den Bürokratiekram. Aber ich habe das kompensiert, indem ich bei einer zweiten Band eingestiegen bin. Drei Mädels, die singen vor allem Roma-Songs, osteuropäische und griechische Lieder, ukrainische, polnische und bulgarische. Die haben ein Faible dafür und da bin ich mit einem Kumpel eingestiegen. Die Mädels sind 20 Jahre jünger als wir und hochmotoviert. Ich bin musikalisch dabei und hab mit dem bürokratischen Kram nichts zu tun.
Olaf: Also Musik ist jetzt Hobby geworden?
Thomas: Ja, kann man so sagen, wobei ich Berufsmusiker kenne, die sind nur Beamte und völlig uninteressiert an Musik. Und dann gibt’s Amateure, die da viel mehr Herzblut reinstecken. Musik kann man immer machen.
„Ich war nie Macher. Ich war eher Mitmacher.
Aber Mitmacher kannste auf verschiedene Weise sein.“
Olaf: Letzte Frage. Angesichts unseres Alters und der Überalterung unserer Gesellschaft, wie siehst du da die Zukunft der Kufa und die von Hoyerswerda?
Thomas: Ich weiß natürlich, dass es ein Problem ist, dass so viele weggegangen und nur wenig nachgekommen sind. Da ist es sehr schwer so einen Betrieb aufrecht zu erhalten. Ich hoffe, dass der Bürgersinn in Hoyerswerda so stark ausgeprägt ist, dass klar ist, dass Hoyerswerda ein soziokulturelles Zentrum braucht. Es gibt ja Leute, die das in Frage stellen. Und ich hoffe, was Auswärtige betrifft, egal ob’s Migranten oder Aus-Werd’sche sind, dass diese skeptisch-ablehnende Geisteshaltung nicht so groß wird, dass sie verhindert, dass diese Leute sagen, um Gotteswillen, tut mir leid, auch wenn ihr hier tolle Arbeitsmöglichkeiten habt, ich zieh‘ hier nicht her. Weil, auf solche Leute in der Stadt hab‘ ich keinen Bock. Ich hoffe, dass das nicht passiert.
Olaf: Du bleibst also begleitender Beobachter aus der Ferne?
Thomas: Ich war nie Macher. Ich war eher Mitmacher. Ohne die geht’s ja letztendlich ooch nich‘. Und Mitmacher kannste ja eben auf verschiedene Weise sein. Einmal im Jahr, einmal im Monat, einmal die Woche. Oder geistig. Es gibt eigentlich keinen Tag in der Woche, wo ich nicht an Hoy denke. Ist irgendwie Heimat. Und auch Familie. Ich hab‘ mehrere Familien. Meine Bands. Meine Berliner Hausgruppe. Und Hoyerswerda mit seiner Kufa.
Das Interview wurde am 16.11.24 im Bürgerzentrum Hoyerswerda geführt.