Gundermanns Waffeleisen

Der Bürgerchor Hoyerswerda macht im Oktober eine Chorreise. Als Mitglied des Chores wurde ich gebeten, mal dazu was aufzuschreiben. Also tue ich es.

Ein paar Zahlen zur Reise
65 Frauen und Männer zählt der Bürgerchor Hoyerswerda. 40 von ihnen brachen am 24. Oktober zu einer kurzen Chortournee nach Südwest-Deutschland auf. Tübingen und Bahlingen. Drei Tage, zwei Auftritte, ein Bus. Und 9.000 Euro Zuschuss von der Seenlandstiftung auf dem Konto, ohne die der Chor nicht hätte aufbrechen können. 

Der Bürgerchor in der Rolle eines Botschafters 
Spätestens nach der symbolischen Übergabe des Fördergeld-Checks durch die Stiftungsvorstände Thomas Delling und Uwe Blazejczyk war dem Bürgerchor klar, dass er mit seiner Reise in die Rolle eines „Botschafters“ von Hoyerswerda schlüpfen würde. Einer Stadt, die man vor allem als Stadt mit politischem Makel kennt oder – gar nicht.

Was für eine Botschaft übermitteln?
Das war die große Rätselfrage: Was für eine Botschaft hätte der Chor mitzuteilen? Jenseits der üblichen Phrasen. Über seine Stadt, die seit 70 Jahren durch städtische Strukturbrüche und Wandlungsprozesse hindurch hetzt. Als läge ihr nichts andres in den Genen, immer wieder Schwierigkeiten anzuziehen und sie auszubaden, nicht zur Ruhe zu kommen und nicht in Ruhe gelassen zu werden. Und die nun schon wieder an einer „historischen“ Wegscheide steht: Entweder sie verjüngt sich radikal durch Zuzug oder sie vergreist, pflegerisch notdürftig begleitet, in den nächsten 20 Jahren nach und nach – und erlischt. Aber dann wenigstens im Party-Modus! Was bliebe den in die Jahre kommenden Babyboomer sonst übrig, die sich hier einfach nicht vom Acker machten, 1989/90. Die hier sterben wollen und die jetzt ein Drittel der Einwohnerschaft ausmachen. Und die den Bürgerchor zu fast 100% bevölkern.

Der „Umweg“ zu einer Botschaft: Gerhard Gundermann 
Nun muss man wissen, Gundermann und seine Lieder waren der Grund und Anlass, weshalb sich der Bürgerchor 2015 zum 60. Geburtstag des Frühverstorbenen überhaupt gründete. Und weshalb der Projekt-Chor nach dieser ersten Proben- und Auftritts-Erfahrung einfach weiter machte und bestehen blieb. Auch wenn Gerhard Gundermann in der Bürgerschaft von Hoyerswerda keineswegs mehrheitlich akzeptiert ist, wofür man Verständnis haben kann, und ziemlich viele seiner Person mit unchristlicher Abfälligkeit begegnen, wofür man kein Verständnis haben muss – Gundermanns Liedgut macht den „Markenkern“ des Bürgerchores aus.

Gundermann: Unverwüstlich
Die Erfahrung mit Gundermanns Liedern ist für den Bürgerchor ziemlich komplex. Viele seiner populären Melodien sind geklaut. Die Texte – alle von ihm selbst – strotzen vor Drastik, Sarkasmus, Poesie. Scheißegal wie sehr Lebensumstände auch zubeißen oder würgen mögen, in ihnen haust eine unverwüstliche Lebenslust durchseucht von einer abgründig-bissigen Melancholie – oder umgekehrt. Und: Es sind Arbeiterlieder. Widersprüchliche Dinge werden bei ihm einfach, eindringlich und leicht verständlich. Dialektik – berauschend leichtfüßig, wenn man sie verstanden hat und wie er „atmet“. 

Gundermanns Lieder als Waffeleisen 
Und mit seinen Liedern steht und stand der Bürgerchor nun mal wieder auf der Bühne dem Publikum gegenüber. Und da erleben die Chormitglieder, was sie schon öfter erlebten, dass Gundermann sie spätestens auf der Bühne zu einer Haltung zwingt. Spätestens dann spüren auch die Letzten, dass sie es mit seiner Lust, seinem Grimm, seiner Sehnsucht, seiner Nachsicht, seinem Trotz, Schmerz und Lebenshunger zu tun haben, das man dem Publikum entweder unter die Haut jagt – oder man blamiert sich. Und genau dann zeigt sich’s plötzlich: Nicht der Chor ist das Waffeleisen, das den Liederteig von Gundermann für’s Publikum backt, sondern es ist genau umgekehrt: Gundermanns Songs backen den Chor, sie sind das Waffeleisen. Freilich angeheizt durch einen „Mittelsmann“, den Lied-Arrangeur und Chorleiter Andre Bischof, der selbst noch mit Gundermann und seinen „Feuersteinen“ Musik machte und von dem viele Leute im Chor sagen, sie singen hier nur, weil er ihn leitet.

Und plötzlich ist die „Botschaft“ da
Und weil der Chor sich backen lässt von Gundermanns Liedern und seinem Adlatus Bischof, überträgt sich was. Aber was genau überträgt sich? Man hörte immer wieder, der Bürgerchor wirke so „authentisch“. Eine ausgelutschte Phrase? Ja, was zum Teufel meint das denn – „authentisch“? Eigentlich macht der Chor etwas ganz einfaches: Er zeigt auf der Bühne seine gemeinschaftliche Freude an den ausgewählten Liedern – den bereits oben erwähnten Grimm, Lebenshunger, Trotz usw. – und überträgt all das auf das Publikum. Gundermann erzwingt vom vortragenden Chor „authentisches“ Verhalten. Sonst geht’s in die Hose. Und dann ist sie da, eine ziemlich einfache Botschaft: Energie. Lebensenergie. Aus Hoyerswerda. Da wo Gundermann herkommt. Und das reicht – als „Botschaft“. 

Leichtes Spiel in Tübingen 
Tübingen ist bezüglich der Altersstruktur eine der jüngsten Städte Deutschlands. Irgendwie kurios für den Chor, denn Hoyerswerda war vor 40 Jahren die DDR-Stadt mit dem jüngsten Altersdurchschnitt. Doch ist sie diesbezüglich eine der ältesten Städte Deutschlands. Was der Chor nicht wusste, in Tübingen gibt es eine große Fangemeinde von Gundermann, die gerade einen großen Verlust betrauert, den Tod des Bandchefs Heiner Kondschak von der „Randgruppencombo“, einer ziemlich erfolgreichen Gundermann Coverband. Hier also taucht der Bürgerchor aus Hoyerswerda auf, auf der Bühne im Pfleghof, einem größtenteils selbstverwaltetes Studierendenwohnheim mitten in der Tübinger Altstadt. Es wird ein furioses Heimspiel für den Chor, gemeinsam gestaltet mit dem Tübinger Ernst-Bloch-Chor und dem Schwarzwälder ShantyPeters, die auch einige Gundermann-Lieder im Repertoire haben. Der Zuschauerandrang im Saal war so groß, das nicht alle reinpassten. An der verglasten Wand zum Hof drückten sich Dutzende Nasen, zwei Glastüren wurden geöffnet, damit sie draußen auch was hören konnten. Eignet sich Gundermann als „Verkaufsschlager“, als höchst wirksames „Marketing“-Instrument für unsere Stadt?

Ein anderes Spiel in Bahlingen
Der Auftritt einen Tag später hatte einen vollkommen anderen Rahmen. Der dortige Chor „O-Ton“ feierte sein 100-jähriges Jubiläum und hatte zu einer großen Geburtstagsparty geladen, an der viele lokale Chöre mit eigenen Programmen auftraten. Der Bürgerchor war bereits 2019 dort. 2023 erfolgte einen Gegenbesuch von O-Ton, der in der Kufa enormen Eindruck machte. Als stimmgewaltige „Kampfsänger“ trugen sie „Mama“ von der britischen Band „Queen“ vor. Der Chorleiter von „O-Ton“ ist übrigens ein Sohn von Andre Bischof. Noch Fragen? In Bahlingen griff der Bürgerchor diesmal zu Liedern aus ihrem 20er-Jahre-Programm „100 Jahre später“, zu Liedern wie „Was macht der Maier am Himalaya“ oder „Ein Tag wie Gold“. Und wieder wurde dem Chor eine ungewöhnliche „Authentizität“ bescheinigt. Die Gundermann-Erfahrung wirkt: Nimm das Lied als „Waffeleisen“, spüre die Energie und die Haltung auf, die im Lied „versteckt“ ist – und zeige sie so, wie du es vermagst zu zeigen, ohne dich zu verstellen. Andernfalls verzichte auf das Lied. Auch das tut der Chor manchmal.

Zimtschnecke, Pizza, Bier und Krieg 

Noch in Tübingen spielte ein Chormitglied am Kneipentisch bei Pizza und Bier den Song „Krieg“ von Gundermann vor. Am darauffolgenden Tag kam es bei Zimtschnecke und Kaffee zwischen drei Mitgliedern des Ernst-Bloch-Chors und zwei Leuten vom Bürgerchor zu einer politischen Diskussion über die den Tübinger im Osten völlig unverständliche, positive Haltung vieler Leute gegenüber der AfD und dem BWS. In diesen beiden Futter-Stunden starben wieder Dutzende Ukrainer, Russen, Palästinenser und Israelis. Und während wir schmatzten, hörten wir Textzeilen wie „Wir lagen uns gegenüber / die Front war das ´Meer / Ich schickte dir Bomben hinüber / und du welche her“. Und dann kommt einer auf die Idee: Warum sich nicht wieder in Gundermanns Waffeleisen legen – zu seinem 70. und ihm ein Programm widmen, Arbeitstitel „Männer, Frauen und Kanonen“?