Die Steuergruppe Bürgerhaushalt 2019 traf sich in ihrer erster Sitzung. Die war durchaus konstruktiv.
Einhundertachtzig Vorschläge. 1-8-0! Wir alle staunten nicht schlecht. Uns war klar: Das wird dauern! Abendbrot fällt aus. Mein Redakteur, der drei Armlängen von mir entfernt saß, griff sich demonstrativ an seine Hüftrolle. Meine Kollegin, die gekommen war, weil sie wissen wollte, ob ihr Vorschlag auf der Wahlliste landen würde, wedelte mit einer Packung Fisch. Ich verzog das Gesicht und wies selbstzufrieden auf meine leere Papiertüte. Ein Schinken-Baguette mit Ei und als Nachspeise einen gezuckerten Pfannkuchen: Verdrückt auf dem Weg zum Neuen Rathaus. Mein Magen war also vollgestopft. Jetzt hatte ich unsäglich großen Durst. Doch ich saß am Pressetisch. Und der war gut bestückt mit anmutigen Grüppchen winziger Mineralwasserflaschen.
Mittig im Ratsaal, in einem geschlossenen Viereck, hatte sich die neu gebildete „Steuergruppe Bürgerhaushalt 2019“ platziert. 15 Leute. Fünf Stadträte, vier Verwaltungsleute, drei Vertreter der Bürgerschaft und drei Leute, die ich nicht zuordnen konnte. Sechs Frauen und neun Männer. Und wir, der Rest, drum rum: Zwei Leute am Techniktisch, zwei Journalisten, ich und meine Kollegin am Pressetisch. Und eine Handvoll Interessierter in den üppig gestellten Zuschauerreihen. Vorhang auf!
30 Minuten Vorstellungsrunde. Das Statement eines Bürgerschafts-Vertreters brachte einen Tropfen Dramatik in den Raum. Er kritisierte die Zusammensetzung: Zu wenig Bürger! Und erntete umgehend den Protest der andern: „Wir sind auch Bürger der Stadt!“ Ein Stadtrat hatte zuvor gesagt: „Es kann sein, dass wir nicht alles richtig machen.“ Jemand lenkte ein, man könne die Zahl der „normalen“ Bürger gern erhöhen, das wäre kein Problem. Vor meinen Augen verwandelte sich die Gruppe in eine kleine Lehrrunde demokratischen Aushandelns. „Wenn wir über jeden Vorschlag zwei Minuten reden, kommen wir auf sechs Stunden. Ich schlage deshalb vor, wir machen bis 19.20 Uhr und zücken dann unsere Kalender.“ Ein Mann, der sich bei der Selbstvorstellung als Angestellter des Finanzamts enttarnte, war dagegen, wollte bis zum Ende durchziehen. Sechs Stunden. Bis Mitternacht. Sportlich! Meine Kollegin neben mir jammerte. „Ich muss meiner Tochter Abendbrot machen!“ – „Hallo? Deine Tochter ist 16.“ Der Mann wurde überstimmt. Zwei Stunden später beugte sich die Gruppe über ihre Kalender.
Es folgten 60 Minuten Diskussion um die Zulassungskriterien für die Wahlliste. Einer der Stadträte, der auf ein Handball-WM-Spiel der Deutschen verzichte, war, wie sich herausstellte, von den Stadträten verdonnert worden, Zulassungs-Kriterien für die Liste zu erarbeiten. 13 Stück hatte er zusammengetragen. Nur zwei bereiteten mir Bauchschmerzen: Keine Aufwands-entschädigungen. Ein Bürger-Vertreter stellte dieses Kriterium in Frage mit dem Verweis darauf, dass die Mitglieder der Steuergruppe für ihre Arbeit auch eine Entschädigung erhielten. Es wurde abgewählt, kam vom Tisch. Auch das einschüchternde Kriterium „Vorschlag darf keine Folgekosten auslösen“ plumpste von der Tischkante. Einzelfallprüfung. Meine Kollegin ging raus und telefonierte mit ihrer Tochter.
Wer also durfte auf die Liste und wer flog raus? Nur einmal musste der Techniktisch eingreifen, der die Tonaufzeichnung überwachte: „Es dürfen bitte nicht mehr als drei Mikrofone gleichzeitig angeschaltet sein!“ Die „Verwalter“ hatten gut vorgearbeitet, geprüft, ob die Vorschläge wirklich beweisbar von Bürgern der Stadt kamen, hatten Kosten geschätzt, Hinweise eingearbeitet, was davon bereits Angelegenheit des Stadthaushalts ist und vom Bürgerhaushalt zu entlasten sei. Trug ein „Verwalter“ zu große Bedenken vor, pfiff ein Stadtrat ihn zurück: „Wir prüfen hier nur, ob der Vorschlag auf die Liste darf. Egal wie wir ihn finden. Die Bürger entscheiden darüber!“
Um es mal so zu sagen: Seit ich in der Stadt bin, begegne ich oft dem Geraune und Gemeckere über die Faulheit und Unfähigkeit der Hoyerswerdaer Stadtpolitik. Kann ich nicht bestätigen. Die scheint besser als ihr Ruf. Verschiedene Perspektiven saßen hier am Tisch, die sich – zumindest diesmal – wertschätzend einigten. 40 Vorschläge schafften sie in 60 Minuten. Im Hoyerswerdaer Amtsblatt wird die Gesamtliste veröffentlicht werden. Interessant wird hier die bereits erfolgte statistisch-thematische Übersicht und „Messung“ der Vorschläge. Daten, die „soziologisch“ zu kommentieren, sich lohnt. Weil sie uns sagen, wie wir ticken…
Das TAGEBLATT wird, so hoffe ich, da noch genauer draufschauen… Und meine in Sachen Sitzungsteilnahme jungfräuliche Kollegin? Sie hatte Pech: Fünf Vorschläge zu früh brach die Gruppe die Sitzung ab. Demokratie beansprucht Zeit und dehnt sie oft wie einen Kaugummi.
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung/Hoyerswerdaer Tageblatt 26./27.01.19 unter dem Titel „Gut Ding will Weile haben“)