Die aktuelle Diskussion um einen weiteren Strukturwandel führt zu einer ganzen Reihe von Fragen – und zu Karl Marx.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht: ich lese und höre seit einigen Wochen von gewaltigen Geldfonds, die vom Bund in Berlin sowie auf der Bundesländerebene in Dresden und Potsdam aufgelegt werden sollen, um den bevorstehenden Lausitzer Strukturwandel bis in das Jahr 2038 finanziell mit Subventionen zu begleiten. Der Strukturwandel werde das Gesicht der Lausitz tiefgreifend verändern, lese ich. Ein Wandel, in die eine wie auch andere Richtung, in eine negative oder positive. Je nachdem, wie die Interessengruppen in der Lausitz sich zusammenraufen oder gegenseitig kannibalisieren.
Zunächst fragte ich mich ganz naiv: Was an Struktur soll sich da eigentlich wandeln? Ich weiß ja als Lausitz-Neuling, dass der Kern des Wandels durch den bevorstehenden Braunkohle-Ausstieg ausgelöst wird. Da es mir nicht an der Kraft logischer Schlussfolgerung mangelt, sage ich mir: Also wird dies dann wohl kräftige Auswirkungen haben auf die hiesige Unternehmens- und Erwerbsarbeitsstruktur. Auf die Einkommen und auf Konsumtionskraft der Lausitzer. Wie auch auf die Steuereinnahmen der Kommunen. Ich höre und lese von etwa 10.000 Arbeitskräften, die direkt an der Kohle, und von 10.000 Arbeitsplätzen, die indirekt an der Kohle hängen. Wenn die Lausitzer diesen Strukturwandel nicht packen, schlussfolgere ich pathetisch, dann droht ihrer Heimat Gefahr: nämlich erneut Abwanderung überschüssiger Arbeitkräfte und ihrer Familien.
Nun habe ich zwar einen schon fast pathologisch erwartungsarmen Charakter, aber in der Grundanlage zähle ich mich dann doch eher zum lebensfroh-optimistischen Menschenschlag. Sie müssen wissen: ich verdiene mir mein karges Brotgeld in der (Sozio-)Kultur produzierenden Branche. Eine eigentümlichen Kooperationsform von Ehrenamt und Hauptamtlichkeit mit Künstlern diverser Fächer. Diesmal jedoch, wollen sich einfach keine kulturproduzierenden Zukunftsbilder in meinem Kopf einstellen. Es mangelt mir, muss ich zugeben, dann doch an Empathie und Emotion für den angekündigten Wandel. Was ist nur los mit mir? Habe ich ein Brett vor dem Kopf? Bin ich zugenagelt? Fehlt mir die Fantasie? Bin ich wie ein Frosch, der seit Jahren langsam gekocht wird und sich nun eingestehen muss, dass er schon lange die Hoffnung verloren hat, Strukturbrüche könnten der Kultur und ihren Akteuren zugute kommen? Bin ich echt so abgebrüht? Oder vielleicht nur zu alt? Werde ich mich irgendwann, ganz gar und fade durchgekocht, in vollkommener Alters-Unberührtheit auflösen?
Als ich davon höre, dass am Montag im Sparkassensaal die Informationsveranstaltung „Was kommt nach der Braunkohle – Strukturentwicklung in der Lausitz“ stattfindet, hinke ich neugierig hin. Ich sitze inmitten von etwa 100 Zuschauern. 90 % männlich, der größte Teil davon 55plus. Ein Staatsminister, Fachreferenten, unser Oberbürgermeister. Ich sehe Stadträte, Unternehmer, Bürger. Begriffe schwirren mir um den Kopf. Die Politiker sprechen von „Angebotspolitik“. Das heißt: sie stellen Gelder in Milliardenhöhe zur Verfügung und die Lausitzer Interessengruppen müssen dann aushandeln, wo sie als Struktursubvention hinfließen. Wer wird da am grünen Tisch sitzen – und wer nicht? Ich höre interessante Reden, Fakten, Zahlen, Projekte. Höre vom Ausbau des 5-G-Netzes. Vom Think Tank „Zukunftswerkstatt“ in Bad Muskau. Von der Anbindung an eine superschnelle Bahnstrecke Berlin-Görlitz. Ich höre von einem Projekt für Hoyerswerda: Kathrin Schlesinger vom Lausitzer Technologiezentrum trägt es vor. Hoyerswerda könnte ein Kompetenz-Zentrum werden für Bauen und Wohnen in Verbindung mit „Smart City“. Ich höre von einer Präsenzstelle der Bergbau-Akademie Freiberg mit der Fachspezialisierung „Material- und Baustoff-Forschung“. Ich höre vom innovativen Produkt „Modul-Haus“.
Ich denke an Karl Marx und das Kommunistische Manifest: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.“ Die älteren Männer um mich herum reden sich die Köpfe heiß. Die anwesenden AfD-Leute bezweifeln die Notwendigkeit des Kohleausstiegs. Und ich? Ich seufze und denke: „Schön, machen wir mal wieder einen Strukturwandel mit.“ Wird meine Kulturproduktions-Branche einen Platz am grünen Tisch erhalten? Eigenartig. Warum habe ich nach solchen Treffen nur so wenig Hoffnung?
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung/Hoyerswerdaer Tageblatt 23./24.03.19)