Hoyerswerda: Vision und Scheitern der sozialistischen Zukunftsstadt (1955-1990)

Das Zeitzeugen-Projekt ist abgeschlossen. Ein Fazit.

In der Ursprungs-Konzeption des Projektes hieß es: Gegenstand des Interesses ist hier der politische Diskurs unter SED-Funktionären, Architekten, Bürgern und Künstlern, die Ideale der „sozialistischen Zukunftsstadt Hoyerswerda“ zugunsten wirtschaftspolitischer Erwägungen aufzugeben und damit einem fatalen wirtschaftspolitischen Strategie-Fehler zu aufzusitzen. Der große „sozialistische Irrtum“.

Während der Durchführung des Projektes musste eine wesentliche konzeptionelle Korrektur vorgenommen werden. Dies wird gut in der Veränderung des ursprünglichen Arbeitstitels sichtbar: Aus „Betonköpfe – Der blanke Verrat!“ wird „Die Vision und das Scheitern der sozialistischen Zukunftsstadt Hoyerswerda.“

Eeigentlich war eine reine Interview-Reihe mit einzelnen Zeitzeugen geplant. Dies wurde aufgrund der Recherchen, von Todesfällen sowie gesundheitlicher Verhinderung aus Altersgründen abgebrochen. Stattdessen wurde nach drei Interviews eine finale Gesprächsrunde zum Thema organisiert. Der Schwerpunkt verlagerte sich in der Folge weg von mündlichen Zeitzeugen-Aussagen hin zur Recherche von Zeitzeugen-Dokumenten, ihrer Sicherung und Digitalisierung.

Der Projekt-Verantwortliche erarbeitete mit Hilfe der lokalen Expertin Dorit Baumeister (Architektin und Kulturaktivistin) zum Aufbau von Hoyerswerda (1955 bis 1989) zunächst vier Thesen:

1. These: „Wir bauen die Stadt der Zukunft!“ (1955 bis 1963)

Der Aufbau-Zeit von Hoyerswerda-Neustadt lag von 1955 bis Mitte der 1960-ziger Jahre die Energie und der „Geist der Moderne“ zugrunde.

Zwei große Visionen verbinden sich hier:

Das Gaskombinat Schwarze Pumpe entsprang der Vision, das Zentrum der Energie-Gewinnung und -Versorgung im neu entstandenen Land DDR aufzubauen. Ein industrielles Zentrum im Geist der Entwicklung weltweit modernster Technologien zur Energie-Gewinnung und Versorgung auf der Grundlage von Braunkohle.

Hoyerswerda-Neustadt sollte die Wohnstadt für die Belegschaft dieses neu entstehenden industriellen Super-Zentrums werden. Eine Stadt der Moderne, die sich an den damals fortschrittlichsten Vorstellungen über den Zusammenhang von Arbeiten, Wohnen und Erholen orientierte – der „Charta von Athen“ (1933). Architekturgeschichtlich lassen sich hiermit Bezüge zum Aufbau einer zeitgleich entstehenden, anderen Stadt ziehen: Der Planhauptstadt Brasilia.

2. These: Eine einschneidende Zäsur (1963-1973)

Mitte der 1960-ziger Jahre erlitt die Energie und der „Geist der Moderne“ beim Aufbau von Hoyerswerda-Neustadt einen empfindlichen Dämpfer.

Die Entwicklung des Gaskombinats „Schwarze Pumpe“ erzeugte einen nicht zu bändigenden, höchstdringlichen Wohnungsbedarf in der Stadt.

Der Aufbaustab von Hoyerswerda wurde de facto aufgelöst. Seine Unterordnung und Eingliederung unter das Bezirks-Zentrum Cottbus veränderte die planerischen Arbeits- und Entscheidungsstrukturen einschneidend. Die kreative Kraft der Städteplaner und Architekten geriet unter die „Herrschaft“ von Technologen und Ökonomen.

Die nunmehr einsetzenden Veränderungen in der Bauplanung und Ausführung waren so massiv, dass die ursprüngliche Stadtvision ihre Konturen verlor.

3. These: „Das ist keine Stadt!“ (die 1970/80er Jahre)

Mit der Standardisierung des industriellen Wohnungsbaus und dem Wohnungsbau-Programm der SED setzte sich ab 1973 das Paradigma „Wohnungsbau statt Städtebau“ durch.

Es stärkte die „“Vorherrschaft“ von Technologen und Ökonomen gegenüber den Städteplanern und Architekten, die einzig in den Gesellschaftsbauten (Kindertagesstätten, Schulen sowie Dienstleistungs- und Kultureinrichtungen) noch kreative Spielräume vorfanden.

Durch die Entwicklung des Gaskombinats Schwarze Pumpe hielt der Wohnungsdruck auf die Stadt unvermindert an. In diesem Dilemma kam es zu beispielhaften, lokalen Kooperationsformen zwischen Stadtverwaltung, Rat des Kreises und Gaskombinat.

4. These: Die Wende und eine „unfertige“ Stadt (Resümee)

Im Rückblick mutet die Geschichte von Hoyerswerda in den Jahren 1955 bis 1990 höchst bewegend an.
Mit dem Aufbau der DDR trafen in Hoyerswerda zwei ungewöhnlichen Visionen aufeinander: Die Vision modernster industrieller Energie-Gewinnung und -Versorgung auf der Grundlage von Braunkohle einerseits sowie die Erschaffung einer Stadt der Moderne andererseits.
Mit dem Beitritt der DDR in die Bundesrepublik Deutschland starb diese Doppel-Vision.

In Auswertung der finalen Gesprächsrunde am 26.02.19 und weiterer Dokumente wurde eine ergänzende 5. These formuliert.

5. These: Ein historisch zufälliger Prototyp von „Bürgerstadt“

Die Vorstellung einer (sozialistischen) Stadt der Moderne ist als theoretische Prämisse einer historischen Rekonstruktion des Aufbau-Prozesses von Hoyerswerda zwar zulässig, kann aber als Ausgangspunkt nicht gehalten werden.

Die Akteure des Stadtaufbaus (Architekten, Stadtplaner, Technologen, Ökonomen, Wirtschafts-, Verwaltungs- und Parteifunktionäre, Bürgerschaft) waren von Anbeginn einem enormen Handlungsdruck hinsichtlich der elementaren Wohnungs- und Versorgungsfragen ausgesetzt.
Hier konnte nur das Prinzip „learing by doing“ gelten.

Angesichts der systemisch bedingten, eingeschränkten ökonomischen Ressourcen, wurde die Vorstellung einer Stadt der Moderne von Anfang an fallengelassen.

Im Prozess des „Lernens durch Tun“ kam es einerseits zu beispielhaften, für die Zeit unkonventionellen Kooperationsformen zwischen lokalen Verwaltungs-, Partei- und Wirtschaftsfunktionären sowie andrerseits mit und innerhalb der Bürgerschaft selbst.

Zugespitzt kann man formulieren: Unterhalb des Radarschirms der politischen Machtzentren Berlin und Cottbus ist aufgrund a) der eigentümlichen Symbiose von Hoyerswerda und dem Gaskombinat Schwarze Pumpe sowie b) den entwickelten lokalen Kooperationsformen – ein „Prototyp“ von moderner „Bürgerstadt“ entstanden, deren Geist insbesondere durch die soziokulturelle Wirkung der noch lebenden Vertreter der Aufbau-Generation eindrucksvoll nachhallt.

Die momentane Materiallage des Projektes stellt sich so dar:

Bild, Ton, Transkriptionen

  • Schnitt einer Gesprächsrunde vom 26.02.19 (153 min)
  • Interview Helene und Martin Schmidt vom 25.10.18 (140 min)
  • Interview Werner Schmidt vom 25.10.18 (140 min)
  • drei Foto-Serien von Dirk Heth zu den Gesprächs-Situationen
  • Interview Dr. Herbert Richter vom 15.08.17 (nur Ton – 140 min)
  • redigierte Transkripte zu allen Interviews/Gesprächsrunde (insgesamt ca. 150 Seiten)
  • digitale Video-Datei zum Dokumentarfilm „Eine Stadt wird geborene ein Kind“ (1976) (40 min)
  • Transkript zum Film (18 Seiten)

Dokumenten-Sammlung

  • Reden, Aufsätze und Notizen von Dr. Herbert Richter zu Schwarze Pumpe (ca. 70 Seiten)
  • 89 Zeitungsartikel zur Geschichte des Betonwerks – Sammlung Werner Schmidt (ca. 100 Seiten), digitalisiert
  • 61 Zeitschriften-Artikel zum Aufbau von Hoyerswerda – Sammlung Peter Biernath (ca. 120 Seiten), digitalisiert
  • Hausarbeit „Abschied Ost – Aufstieg und Fall der „ sozialistischen Wohnstadt “ Hoyerswerda (2002/04) von Marco Rümler (51 Seiten), digital
  • zwei Chroniken des Wohnungsbau-Kombinates (1963 bis 1971 / 1971 bis 1981) (insgesamt 160 Seiten) – Print
  • Städtebauliche und hochbauliche Planungen des industriellen Wohnungsbaus 1959 bis 1989 (129 Seiten), digital
  • Wohnbauten in Fertigteilbauweise (Baujahre 1958 – 1990) eine Übersicht (76 Seiten), digital

weitere historisch wichtige Dokumenten-Sammlungen zum Aufbau von Hoyerswerda werden noch recherchiert bzw. nach Erteilung einer Erlaubnis digitalisiert:

  • ein Zeitzeugen-Dokument von Klaus Richter – „Zwischenruf – Einige Histörchen zum Bau einer Stadt… des Neuen Hoyerswerda“ (ca. 50 Seiten)
  • eine Masterarbeit „Sozialistischer Städtebau und Stadtplanung in der DDR am Beispiel Hoyerswerda“ (2016) von Ina Hünich (91 Seiten)
  • ein Schreibmaschinen-Manuskript des 3. Bandes der Chroniken des Wohnungsbau-Kombinates (1981-1990), nie erschienen
  • Kommunalverträge zwischen Hoyerswerda und Schwarze Pumpe
  • Dokumente der Interessengemeinschaft „Territoriale Rationalisierung“ (ITR)

weitere Dokumente

  • biographische Angaben zu den Zeitzeugen
  • eine Power-Point-Präsentation, die während der Gesprächsrunde genutzt wurde – digital
  • fünf Thesen zum Aufbau vom Hoyerswerda (1955-1990) – digital
  • Einspruch zu den fünf Thesen von Horst Franzkowiak – digital

Eine Foto-Dokumenten-Sammlung war nicht Gegenstand der Recherchen.

Die Materialien werden auf Stick gespeichert und je nach Dokumenten-„Entdeckung“ weiter ergänzt zu einer Digitalen Bibliothek – und können in der Kulturfabrik Hoyerswerda eingesehen werden. Das Material wird dem Schloss-Museum Hoyerswerda sowie der Brigitte-Reimann-Bibliothek Hoyerswerda zur weiteren Nutzung zur Verfügung gestellt.

Hoywoy reloaded – 750 Jahre Hoyerswerda
Ein Projekt des Kulturfabrik Hoyerswerda e.V.
Baustein: „Betonköpfe – Der blanke Verrat“ (Arbeitstitel)
Projektverantwortlich: Olaf Winkler

Das Projekt wurde gefördert von
Stadt Hoyerswerda
Kulturstiftung des Freistaates Sachsen
Fonds Soziokultur
Landkreis Bautzen