Am Dienstag wird das Leitbild Hoyerswerdas diskutiert – nicht zum ersten Mal dieser Tage.
Am Ende zucke ich zusammen: Kein Zeitungsbericht darüber! Sie sprachen, dass man behutsam vorgehen müsse. „Wir wissen doch wie das in der Stadt mit den Befindlichkeiten ist.“ Da bin ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort – und soll nun darüber schweigen? Fünf Frauen und zehn Männer in einem Ladenbüro. Dicht gedrängt an zusammen geschobenen Tischen. Von Mittag bis zum Sandmännchen. Sieben Stunden. Zuhören. Sich gegenseitig informieren. Nachfragen. Widersprechen. Fokussieren. Sich einigen. Am Anfang Kartoffelsalat, Wiener Würstchen, Apfelschorle und Wasser. Später Kaffee, Kuchen, Kekse.
Wussten Sie, dass es eine „Nachrichtenwert-Theorie“ gibt? Als ich prüfen wollte, ob das, was ich da erlebt hatte Nachrichtenwert hat, sprich: „öffentliche Relevanz“, stoße ich auf zehn Kriterien: Neuigkeit, Nähe, Tragweite, Prominenz, Dramatik, Kuriosität, Konflikt, Sex, Gefühle, Fortschritt. Neun von zehn Kriterien trafen zu. Ich hatte einen Volltreffer an Nachrichtenwert gelandet! Aber wie schreibe ich über etwas, über das zu schreiben nicht erwünscht ist. Ich könnte ganz allgemein darüber schreiben, keine Details preisgeben, die Namen der Beteiligten weglassen und Vermutungen anstellen über das Schweigegelübde. Oder ich könnte über den „großen Zusammenhang“ schreiben. Doch dazu muss ich ein anderes Ereignis vorwegschicken. Also Rückblende:
„Zehn Meter bis zum Fahrstuhl. dann fährst du in den zweiten Stock und dann noch mal zwanzig Meter. Den Rollstuhl trage ich dir hoch!“, sagt der Kollege, der mich her gefahren hatte. Als ich aussteige, stelle ich verwundert fest, dass das neue Rathaus nicht in der Neustadt steht, wie ich vermutet hatte, sondern auch in der Altstadt. Gott sei dank gibt es rechts ein Geländer, an dem ich mich hochziehen kann. Ich trete ich in den Sitzungssaal. Hier ist also sie, die öffentliche Bürgerversammlung zum Thema: „Das Leitbild Hoyerswerda 2025.“ Hochinteressant für mich als Neubürger. Gut 100 Leute sitzen murmelnd im großzügigen Halbkreis vor einem Podium.Der bärtige Moderator stellt eine halbe Stunde das Leitbild vor, das bereits fünf Jahre alt sein soll und das kaum ein Bürger kennen würde. Der Vortrag ermüdet, nichts, was wirklich packt.
Es liegt nicht am Bärtigen, der gibt sich alle Mühe, sondern am Inhalt, den er zu referieren hat. Bei einem Satz werde ich munter. „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Stark! Doch schien es, als hätten die Autoren des Leitbilds den letzten Teil des Satzes vergessen. Der Moderator resümiert: Das Leitbild zündet nicht. Ich lausche drei Statements von Bürgern. Sie steigern sich in ihrer Schärfe. Das letzte Statement , von einer Frau mit mächtiger Mähne, packt mich. Sie verweist auf einen historischen Strudel, in den die Stadt vor 25 Jahren geriet und seine noch bedrohlichen Sogkräften, die die Stadt sie zu verschlucken drohen, wenn nicht unkonventionell dagegen gesteuert werde. Jetzt bin ich hellwach: Das klingt wie eine heftige Sehnsucht nach einer anderen, umgekrempelten Stadt!
Einen Monat später sitze ich also sieben Stunden zwischen diesen Leuten, die sich versammelt hatten, um diese Sehnsucht wieder zu spüren, nach dem weiten, endlosen Meer. Der Moderator, ein großer eindrucksvoller Mann, hatte Zettel ausgegeben. Jeder sollte zu drei Stadtthemen etwas aufschreiben. Vorderseite: Ist-Zustand, Rückseite: Vision. Ohne viel nachzudenken. Nur einen Eindruck notieren und einen Traum. Einfach naiv benennen, ohne Schere im Kopf. Als sie mit der Diskussion beginnen, legen sie fest: Keine Wer-hat-Schuld-Diskussion. Alle spüren die positive Energie im Raum. Wohlwollen, Wertschätzung. Immer wieder diskutieren Sie, was ein Leitbild ausmacht.
Ich denke an Robert McKee und sein Buch „Die Story“, die Bibel der Dramaturgen. McKee erwähnt, dass sich der Drehbuchschreiber des Clint-Eastwood-Kultthrillers „Dirty Harry“ einen kurzen knackigen Leitsatz auf die Schreibmaschine geklebt. hätte, die „controlling idea“. Den Kontrollsatz, das Leitbild, die Vision des Drehbuches, gültig für die ganze Story, für jeden Akt, für jede Szene: „Die Gerechtigkeit wird hergestellt, weil der Polizist gewälttätiger ist als der Verbrecher.“ Das also suchten sie hier! Den Schlüssel-Satz, den man sich auf die Tastatur klebt, mit der man jede Geschäftsidee, jedes Konzept, jede Beschlussvorlage abgleichen könnte, ob da die Vision für Hoyerswerda drinsteckt. Dann könnte Stadtpolitik leichter und verständlicher werden. Mit jeder Stunde kommen sie diesem verdammten Satz näher. Alle spüren es. Aber ich sage nichts. Wegen der Befindlichkeiten in der Stadt.
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung/Hoyerswerdaer Tageblatt 19./20.11.16)