Einem Großstädter muss man einen Umzug nach Hoyerswerda wortreich erklären.
„W-o-h-i-n bist du gezogen?“ die Stimme am anderen Ende klingt irgendwie fassungslos . „Nach H-o-y-e-r-s-w-e-r-d-a.“ Das überdeutliche Artikulieren fällt mir noch immer schwer. Spätestens das „A“ ist gelallt. Und der linke Mundwinkel ist auch nicht mehr dicht. Wieder tropft was aufs T-Shirt.
„Warte mal“, höre ich die Stimme am anderen Ende , „ist das nicht die Stadt, die…“ Ich ahne, was jetzt gleich kommt. Ist ja nicht das erste Telefonat mit Berliner Freunden. „Ja, genau d-i-e“, grätsche ich in den Satz hinein. Ich habe keine Lust auf diese fein aufgespießten Klischees über die Stadt, in die ich gerade gezogen bin. Zugegeben, nicht ganz freiwillig. Ich spüre, meine Berliner Freunde bedauern mich doppelt: was mir passiert ist und dass ich hier gestrandet bin. „Naja, in Berlin habe ich in diesem Zustand doch überhaupt keine Chance!“, dröhne ich in den Hörer und starre auf meine linke Hand, die wie ein toter Fisch auf meinem halbtoten linken Bein ihren Dornröschenschlaf schläft. „In Berlin versauere ich allein in meiner Bude. 5 Stock. Kein Fahrstuhl. Ich kann zwar schon wieder Treppen steigen. Aber nur wenn das Geländer rechts ist. Und wie krieg ich den Rollstuhl hoch und runter? Und die Straßenbahn, und die U-Bahn und die S-Bahn… und die vollgekackten Friedrichshainer Bürgersteige?“
Und dann spule ich meinen Pro-Text für Hoyerswerda runter: Kurze Wege. Alle fünfzig Meter läuft dir ein Bekannter über den Weg. Oder du machst alle 100 Meter neue Bekanntschaften. Mit bemitleidenswerten Typen wie mir. Ich guck bei einem Friseur direkt in die Frauenabteilung rein. Freunde haben extra den Schreibtisch am Fenster so gedreht. „Schöne Frauen!“ Spätestens, wenn sie rauskommen. Daneben ein Bäcker mit Draußencafé. Alle Viertelstunde eine Kirchenglocke. „Unterm Fenster hörst die Fußgänger quatschen. Kannst die Dialoge gleich mitschreiben.“ „Aber du hast deine Berliner Wohnung nicht aufgegeben?“„Nei-ein. Untervermietet “, sag ich schnell als wär mir was peinlich. Erleichtertes Aufatmen am anderen Ende. Ich gelte noch bei Verstand. Als würden die mich wirklich vermissen!„Ist das nicht Pegidaland?“ Jetzt ist die Stimme tatsächlich mit einem Klischee durch mein Abwehrbollwerk durchggedrungen. „Ist die Lauuu-sitz, wo ich bin.“ Und habe keine Ahnung, ob das eigentlich einen Unterschied macht. „Die Lauuu-sitz,“, betone ich. Als wäre die Lauuu-sitz was besonderes. So wie das Auenland und die Bewohner knuffig-süße Hobbits.
„Wieso kennst du da eigentlich so viele Leute?“ Ich erzähle vom Kollegen, der mit 70 Laientänzern ein Projekt auf die Bühne brachte und dem ich dabei half. Die Provinz lockt halt mit guten Ideen! Ich roch den Braten: Einkommen für mich freiberuflichen Vagabunden. Ich striezte die Tänzer mit schweren Lebenssinnfragen und freute mich, wenn sie vor der Kamera heulten, ich abgebrühter Arsch. Ich verliebte mich in eine der schönen Tänzerinnen. Meine Berliner Freundin tolerierte die Affäre. Wir Großstädter sind ja sooo libertinär! Die Tänzerin hat es sehr gestört. Und irgendwann knallte es nachts im Kopf. Arbeits- und Beziehungsstress. Und ach ja, da waren noch drei Kinder auf Rügen und der Krieg mit ihrer Mutter. Blut ätzte mir das Motorikzentrum weg. Die schöne Tänzerin rettete mir das Leben. Bis auf das lallende „A“ und das bisschen Gesabber blieb der Kopf halbwegs heil. „Und die Leute, die ich mit meinen Fragen so gequält habe, standen mir auch noch bei. Unglaublich!“
„Ich starte hier mein zweites Leben!“, krakeele ich ins Telefon. „Hier gibts Leute, die sich zu Gruppen zusammenrotten, aus der Not geboren. Die machen Lebenskultur selber. Das sind Kulturproduzenten, nicht so n`e verwöhnten Kulturkonsumenten wie wir Großstadtpauken. Schon mal was von aktiver Bürgerschaft gehört“, doziere ich. „Die haben so geblutet hier! Schrumpfung!“, und ich schieße einen Patronengurt Worthülsen runter. „Entweder du schaust den hier beim Sterben zu mit zoologischem Blick. Oder die ziehen sich selbst aus der Scheiße, denn retten kommt die keiner mehr. Könnte ne klassische Heldengeschichte werden. Oder eine herrliche Dystopie. Hier gibt’s Leute die sagen, wir spielen Untergang der Titanic. Wir sind wie der Frosch, der nicht merkt, dass er gerade zu Tode gekocht wird. Und dann gibts ein paar Durchgeknallte, die nehmen den Mund ganz voll: die sprechen von einer Laborsituation, eine Riesenchance. So oder so: spannend! Verstehste, du Boulette? Ich sag mal so: Ich hab ein Diplom im Zuschauen und studier das hier mal eine Zeit lang, verbiete mir eine Meinung, halt mich raus und beschreibe, was ich beobachte. Kapiert?“
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung/Hoyerswerdaer Tageblatt 22./23.10.16)