Eine Studie eines Berliner Beratungsunternehmens kann einem als Hoyerswerdaer einen gehörigen Schrecken einjagen.
Kenotaph war das Wort, das mir spontan einfiel. Kenotaph. Aber der Reihe nach: Angenommen Sie sind ein halbwegs regelmäßiger Leser der Samstagskolumnen und kein zufälliger Lektüre-Streuner, dann erinnern Sie sich vielleicht an einen Text, den ich hier vor vier Wochen verzapfte (21./22.01.) und der von meinem klugen Redakteur mit „Aufstieg in die Liga der versteckten Perlen“ tituliert wurde.
Ich erwähnte da eine Studie des Empirica-Instituts zur derzeit „enthemmten“ Binnenwanderung in Sachsen. Diese Studie hat mir in den letzten Wochen zugesetzt, mich zartbesaiteten Neu-Hoyerswerdaer. Wie ein aufgeregtes Hündchen an einem Knochen habe ich an der Studie herumgebissen, -geknabbert und -gelutscht. Erst dachte ich, ich könnte Ihnen damit heute einen hübschen, boshaften Schrecken einjagen, doch jetzt habe ich selbst eisig kalte Füße bekommen, ich Sensibelchen. Zur Sache:
Bei der Lektüre der sächsischen Wanderungsströme fand ich die gewählten Prämissen sehr zwingend und einleuchtend, ebenso die logischen Ableitungen und erläuternden Exkurse. Doch die Schlussfolgerungen wirken schwer verdaulich, wenn man eine gewisse Portion Lokalpatriotismus auf dem Teller hat. Zum Beispiel: „Die Stadt Hoyerswerda könnte aufgrund einer Kohortenwachstumsrate von nur 39 (d.h. von 100 dort aufgewachsenen Personen werden 61 die Stadt im Saldo verlassen) möglicherweise zu einer eigenen Gruppe von Gemeinden gehören, bei denen von einer Fluchtwanderung ausgegangen werden kann.“ F-l-u-c-h-t-w-a-n-d-e-r-u-n-g. Autsch!
Die fünf Formen der Binnenwanderung (Ausbildungs-, Berufsanfänger, Settlement-, Mittelalter- und Altenwanderung) erzeugen laut der Studie die Siedlungsformen „Schwarm-“ und „Wachstumstädte“, “versteckte Perlen“ sowie „Schrumpfungsstädte und ausblutende Regionen“. A-u-s-b-l-u-t-e-n-d-e Regionen. Autsch-Autsch! Ich hatte die stille Hoffnung, ich könnte Hoyerswerda auf der Liste der „versteckten Perlen“ finden. Aber nö! Sie wurde gut begründet dieser letzten Gruppe von verlorenen Gemeinden zugeordnet. Dazu heißt es, und Achtung jetzt wird es sehr, sehr drastisch, ich warne Sie vor:
„Die Zukunftsperspektiven der ausblutenden Gemeinden sind bedrückend. Die Stärke der Schwarmstädte in Kombination mit dem andauernden Geburtendefizit (in den Schrumpfungsstädten -O.W.) erlauben es nicht auf eine Trendumkehr zu hoffen. Vielmehr ist es durchaus denkbar, dass sich der Trend sogar beschleunigen wird, da mit jedem Fortzug die Attraktivität der Gemeinde für die Zurückbleibenden weiter sinkt. Wenn ein Großteil meiner Jugendfreunde ohnehin schon in Dresden wohnt, steigt die Wahrscheinlichkeit dass auch ich hinterher ziehe. Gerade für kleinere Gemeinden bedeutet dies, dass eine fast vollständige Entleerung absehbar ist. Dass eine solche Entwicklung keineswegs eine unsichere Spekulation über die Zukunft ist, zeigt die (…) Gemeinde Gablenz. Diese Gemeinden sterben nicht zukünftig aus – wie dies manchmal euphemistisch bezeichnet wird – sie tun es schon heute. Entsprechend kann die politische Strategie für diese Gemeinden nur – wir entschuldigen uns für die Härte des Ausdrucks, aber er ist ebenso zutreffend wie bündig – eine palliativ-medizinische Behandlung sein. Eine palliativ-medizinische Behandlung bedeutet gerade nicht eine völlige Einstellung aller Leistungen der öffentlichen Hand, sondern eine soweit wie mögliche Reduzierung der Schmerzen bis zum Tod. Palliativ-medizinische Behandlungen kosten Geld, das muss allen Beteiligten deutlich vor Augen geführt werden.“
Autsch-Autsch-Autsch! Las ich da eine Grabrede auf Hoyerswerda? Und jetzt das Wort, das mir daraufhin spontan einfiel: Kenotaph. Es bezeichnet ein Scheingrab und dient als Ehrenzeichen für einen Toten. Im Gegensatz zum Grab dient der Kenotaph ausschließlich der Erinnerung und enthält keine sterblichen Überreste. Als ich den Begriff nachschaute, stieß ich auf einen noch anschaulicheren Begriff: Nekropole. Totenstadt. Eine Stadt, die ausschließlich der Erinnerung dient und in der niemand wohnt. Verstehen Sie jetzt, warum ich Sensibelchen eiskalte Füße bekam? Ich wünsche Ihnen, dass Sie abgebrühter sind. Ansonsten überzeugen Sie sich selbst: Googlen Sie einfach mal „Schwarmverhalten in Sachsen“.
(veröffentlicht in der Sächsischen Zeitung Hoyerswerdaer Tageblatt 18./19.02.17)